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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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denke nicht darüber nach, noch eine weitere Sendung für Koppel zu machen oder welche Medizin ich nehmen sollte.
    Ich rede mit dir. Ich denke über dich nach.«
    Ich erinnerte mich daran, wie er in dem Kursus über Gruppenprozesse im Brandeis College diesen Gedanken dargestellt hatte. Ich hatte mich damals darüber lustig gemacht und gemeint, daß dies wohl kaum im regulären Lehrplan für einen Kursus an der Universität vorgesehen war. Lernen, aufmerksam zu sein? Wie wichtig konnte das sein? Jetzt weiß ich, daß es wichtiger ist als fast alles, was man uns auf dem College beibrachte.
    Morrie machte mir ein Zeichen, daß ich ihm die Hand geben solle, und als ich sie ihm gab, wurde ich plötzlich von
Schuldgefühlen überwältigt. Hier war ein Mann, der, wenn er es wollte, jeden wachen Augenblick in Selbstmitleid verbringen konnte, indem er in seinem Körper den Anzeichen des Verfalls nachspürte, seine Atemzüge zählte. So viele Menschen mit weitaus geringeren Problemen sind nur mit sich selbst beschäftigt; ihre Augen verschleiern sich, wenn du länger als dreißig Sekunden mit ihnen sprichst. Sie denken bereits an etwas anderes – einen Freund, den sie anrufen wollen, ein Fax, das gesendet werden muß, einen Liebhaber, dem sie in ihren Tagträumen nachhängen. Sie widmen dir erst dann wieder ihre ganze Aufmerksamkeit, wenn du aufhörst zu reden. In dem Moment sagen sie »Hmmm« oder »Ja, wirklich« und tun so, als hätten sie dir zugehört.
    »Ein Teil des Problems, Mitch, ist, daß jeder so sehr in Eile ist«, sagte Morrie. »Die Menschen haben keinen Sinn in ihrem Leben gefunden, deshalb rennen sie die ganze Zeit rastlos herum und halten danach Ausschau. Sie denken: das nächste Auto, das nächste Haus, der nächste Job. Dann entdecken sie, daß jene Dinge ebenfalls leer sind, und sie rennen weiter.«
    »Wenn du einmal angefangen hast zu rennen«, sagte ich, »dann ist es schwer, das Tempo wieder zu verlangsamen.«
    »Nicht so schwer«, sagte er kopfschüttelnd. »Weißt du, was ich mache? Wenn jemand sich im Verkehr an mir vorbeidrängeln wollte – als ich noch in der Lage war, Auto zu fahren, meine ich –, dann habe ich immer die Hand gehoben …«
    Er versuchte, das jetzt zu tun, aber die Hand ging nur ein kleines Stück, etwa fünfzehn Zentimeter, in die Höhe.
    »… habe ich immer die Hand gehoben, als wollte ich eine Drohgebärde machen, und dann gewinkt und gelächelt. Anstatt ihnen den Finger zu zeigen, läßt du sie vorbei und lächelst.
    Und weißt du was? Häufig lächelten sie zurück.
    Die Wahrheit ist, ich brauche mich mit meinem Wagen nicht so schrecklich zu beeilen. Ich investiere meine Energien lieber in Menschen.«
    Er konnte das besser als sonst irgend jemand, den ich kannte. Diejenigen, die ihn besuchten, sahen, wie seine Augen feucht wurden, wenn sie über etwas Schreckliches sprachen, oder vor Vergnügen in tausend Fältchen verschwanden, wenn sie ihm einen richtig schlimmen Witz erzählten. Er war immer bereit, die Gefühle, die in meiner Generation der Babyboomer so häufig versteckt wurden, offen zu zeigen. Wir machen ein bißchen Konversation: »Was machen Sie?« »Wo leben Sie?« Aber wirklich jemandem zuzuhören – ohne zu versuchen, ihm irgend etwas zu verkaufen, ihn zu einem kleinen Abenteuer zu verführen, ihn für etwas zu werben  – wie häufig schaffen wir das noch? Ich glaube, viele der Besucher, die in Morries letzten Lebensmonaten auftauchten, kamen nicht wegen der Aufmerksamkeit, die sie ihm entgegenbringen wollten, sondern wegen der Aufmerksamkeit, die er ihnen widmete. Trotz seiner Schmerzen und seines Verfalls hörte dieser alte Mann so gut zu, wie sie es sich
ihr Leben lang von einem anderen Menschen gewünscht hatten.
    Ich sagte ihm, er sei der Vater, den sich jedermann wünsche.
    »Tja«, sagte er und schloß die Augen, »ich habe so einige Erfahrung, was das angeht.«
     
    Morrie sah seinen Vater zum letzten Mal in einem städtischen Leichenschauhaus. Charlie Schwartz war ein ruhiger Mann, der gerne seine Zeitung las, und zwar allein, unter einer Straßenlaterne in der Tremont Avenue in der Bronx. Als Morrie klein war, machte Charlie jeden Abend nach dem Abendessen einen Spaziergang. Er war ein kleiner Russe mit rötlichem Teint und einem dicken, ergrauenden Haarschopf. Morrie und sein Bruder David schauten dann immer aus dem Fenster und sahen, wie ihr Vater am Laternenpfahl lehnte, und Morrie wünschte sich, daß er hereinkäme und mit ihnen redete,

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