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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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lächelten zunächst und waren hilfsbereit, doch schon bald runzelten sie genervt die Stirn und wurden regelrecht wütend. Andere Kunden standen Schlange und gaben es schließlich auf, während jeder hohe Baum herangeschleppt, aufgestellt, kräftig geschüttelt und genauestens untersucht wurde. Manchmal, wenn der Geschäftsabschluss kurz bevorstand, seufzte seine Mutter und sagte: »Nein, da ist ein Loch«, und dann fragte sein Vater, wo, und sie zeigte es ihm, und er legte den Kopf schräg und sagte: »Ja, stimmt.« Die meisten Verkäufer kannten seine Eltern nicht und machten den vernünftigen Vorschlag, sie könnten den Baum doch mit dem Loch zur Wand aufstellen, worauf seine Mutter nur nochmals seufzte und sagte: »Nein, zeigen Sie uns noch ein paar andere.« Griffin erinnerte sich an einen alten Mann, der, nachdem seine Eltern ein Dutzend Bäume zurückgewiesen hatten, sagte: »Hören Sie, vielleicht haben Sie da was nicht verstanden. Diese Löcher, die Sie da sehen, sind die Lücken zwischen den Zweigen. Wenn die nicht wären, wär da nur Holz.« Er machte eine ausladende Geste, die den ganzen Verkaufsstand einschloss. »Jeder von diesen Bäumen hat Löcher. Die Löcher sind’s ja, die sie zu Bäumen machen. Also wollen Sie jetzt einen oder nicht?«
    Andere, ebenso müde und frustrierte Verkäufer versuchten es mit Vernunft. Griffin konnte sich an einen erinnern, der in der Hoffnung, die Suche einzuschränken, gefragt hatte: »Wie hoch ist denn Ihre Decke?« Seine Eltern hatten natürlich keine Ahnung. Eine hohe Decke war eine ihrer Bedingungen, wenn sie jedes Jahr aufs neue eine Wohnung oder ein Haus mieteten, aber als Geisteswissenschaftlern wäre es ihnen nie eingefallen, tatsächlich nachzumessen. »Spielt keine Rolle«, sagte sein Vater. »Wenn es sein muss, kappen wir einfach die Spitze.« Worauf der Mann erwiderte: »Das würde aber ein bisschen komisch aussehen, oder?«
    Das war dann der Augenblick, in dem seine Mutter mit Daumen und Zeigefinger an der Spitze eines Zweiges zog und, wenn sie Nadeln in der Hand behielt, sagte: »Wann ist dieser Baum gefällt worden? Im August?«
    Griffin begriff, dass der vollkommene Weihnachtsbaum große Ähnlichkeit mit dem vollkommenen Haus auf Cape Cod hatte, erstens, weil es den vollkommenen Baum in der wirklichen Welt nicht gab, und zweitens, weil all die unvollkommenen Bäume zu einer von zwei Kategorien gehörten. Die erste war das nur allzu vertraute »Möchte ich nicht geschenkt haben«, und die zweite traf nur auf einen einzigen Baum zu: »Na ja, dann wird der’s wohl tun müssen.« Er konnte sich nicht erinnern, jemals seine Meinung zu einem Baum geäußert zu haben, auf den seine Eltern sich geeinigt hatten. Da die Suche nun endlich vorbei war, überreichte sein Vater dem glücklichen Verkäufer ein Stück graue, verwitterte Wäscheleine, damit er den Baum auf das Dach des Wagens legen und durch die geöffneten Fenster festzurren konnte. Manchmal riss die Leine, wenn sie um eine Kurve bogen, und der Baum flog in die Gosse. Einmal schafften sie es nicht mal aus der Parklücke. Griffins Vater beugte sich vor, um den auf das Dach gebundenen Baum im Auge zu behalten, und setzte mit Schwung gegen einen geparkten Pick-up zurück, auf dessen Ladefläche der Baum wie durch Zauberhand landete.
    Zu Hause stellten sie, wenn sie den Baum aufrichteten, unweigerlich fest, dass er tatsächlich zu hoch war, und sein Vater legte ihn fluchend wieder auf den Boden. In manchen Jahren lag er tagelang mitten im Wohnzimmer, während sein Vater die anderen Professoren am Lehrstuhl für englische Philologie fragte, ob sie eine Säge hätten, die er sich ausborgen könnte. Was er in Wirklichkeit meinte, das verstanden sie nur zu gut, war eine Säge, die er behalten könnte, denn er gab nie irgendein Werkzeug zurück. (Die Säge, die er sich im Vorjahr ausgeborgt hatte, hing zweifellos an einem Nagel in der Garage des Hauses, in dem sie damals gewohnt hatten.) Schließlich gab dann irgendjemand nach, und das war der Punkt, wo der wahre Zauber begann.
    Beim ersten Mal schnitten sie nie genug ab – auch hier: kein Maßband, kein Zollstock für die Griffins – und beim zweiten gewöhnlich ebenfalls nicht. Nach dem dritten Schnitt passte der Baum bis auf einen Zentimeter, und das reichte, wenn man ein wenig nachhalf (und das taten sie immer). Allerdings hinterließ die frisch beschnittene Spitze des Baums einen zehn Zentimeter langen feuchten, braungrünen Streifen auf der weißen

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