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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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erwiderte Griffin.
    Marguerite beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange. »Aber ich sage das .«
    Also bitte! , sagte seine Mutter.
    Griffin stellte das Radio an, das sie manchmal zum Schweigen brachte, und im selben Augenblick fuhr ein anderer Wagen schwungvoll in die Auffahrt und kam schlingernd vor dem Gasthof zum Stehen. Jared und Jason sprangen, ohne den Regen weiter zu beachten, heraus und riefen zu den Fenstern im ersten Stock hinauf: »Sun- ny ! Sun- ny ! Sun- ny !«
    Griffin fuhr los, bevor er und Marguerite bemerkt wurden.
    »Kannst du was sehen?«, fragte Marguerite.
    »Es reicht«, sagte er.
    Schnell! , rief seine Mutter, als hätten sie gerade eine Bank ausgeraubt, und er wäre der Fahrer des Fluchtwagens. Fahr, fahr, fahr!
    Er drehte das Radio lauter.
    Seine Mutter plapperte im Rhythmus der Scheibenwischer bis New Hampshire, wo der Regen so abrupt aufhörte, als hätte jemand einen Hahn geschlossen. Als sie zwanzig Minuten später die Grenze zu Massachusetts überquerten, hellte der Himmel sich auf. »Voilà«, sagte Marguerite, als hätte sie soeben einen hübschen Taschenspielertrick vorgeführt.
    Sieh an , sagte seine Mutter, sie ist zweisprachig.
    Er war vor den Zwillingen geflohen, doch jetzt wünschte er fast, sie wären da. Vielleicht hätte er sie dazu bringen können, ihn abermals zu schlagen und damit seine Mutter außer Gefecht zu setzen. Wenn er dazu selbst außer Gefecht gesetzt werden musste, nahm er das in Kauf.
    Marguerite schaltete das Radio aus. »Okay«, sagte sie, »erzähl mir von deiner Mutter«, als hätte sie auf dem ganzen Weg die Küste hinunter ihre Kommentare gehört und beschlossen, es sei an der Zeit, sich ihr zu stellen. »Und über deinen Vater will ich auch alles wissen.«
    Sie wollte für jeden von ihnen ein Persönlichkeitsprofil erstellen, damit sie die richtige Stelle auf dem Cape erkannte, wenn sie sie sah – ein alberner Gedanke, fand Griffin, doch er ließ sie gewähren. Immerhin hatte er selbst ja keinen bestimmten Plan. Außerdem war es hinten still geworden, als Marguerite diesen Vorschlag gemacht hatte, als wäre seine Mutter (und womöglich auch sein Vater) neugierig, was er über sie zu sagen hatte. Also, begann Marguerite, was war ihre Lieblingsfarbe gewesen? Grün. Und seine? Blau. Wo waren sie geboren? Buffalo (Dad); Rochester (Mom). Und ihr Lieblingsessen? Für ihn: Königskrabbenbeine; für sie: gebratene Lammkoteletts. Hobbies? Er sammelte Erstausgaben von P. G. Wodehouse, alte Wahlkampfbuttons und viktorianische Pornografie; sie wandte sich nach ihrer Pensionierung monochromen, tausendteiligen Puzzles zu und stieß elaborierte Flüche aus, wann immer George W. Bush auf dem Bildschirm erschien.
    Marguerites Neugier war so freundlich und wohlmeinend, dass Griffin allmählich ausführlicher wurde. Ihre liebste Tageszeit? Sein Vater war ein Morgenmensch gewesen und, besonders in den Ferien, Stunden vor ihm und seiner Mutter aufgestanden, um Brötchen und eine Zeitung zu kaufen. »Du hast einen tollen Sonnenaufgang verpasst«, sagte er zu ihr, wenn sie schließlich am späteren Morgen zum Frühstück mit Al Fresco auf die Terrasse kam. (»Al Fresco? Wer war das denn?«) »Gar  nichts habe ich verpasst«, antwortete sie dann. Die liebste Tageszeit seiner Mutter war die Cocktailzeit. Sie liebte das Klingen der Eiswürfel in den Gläsern, das von Jazz und Gin befeuerte Gelächter, das Durcheinander vieler Stimmen. Das war in ihren Augen sehr viel besser, als kleine Gesprächsrunden, bei denen man tatsächlich hören konnte, was für idiotische Ansichten die Leute hatten. Er erzählte Marguerite von der Neigung seines Vaters zu unvermittelten heftigen Heckzusammenstößen auf Parkplätzen, von der Rede, die seine Mutter bei ihrem Abschiedsdiner gehalten hatte, und sogar einen Teil der Morphiumgeschichte. Und als sie ihn ganz zusammenhangslos nach einer Weihnachtserinnerung fragte, erzählte er ihr von der Suche nach dem perfekten Baum, auf die sie sich jeden Dezember begeben hatten.
    Obgleich sie vorgaben, die Weihnachtszeit wegen der allgemeinen Heuchelei und dem hinaustrompeteten »Aller Menschheit ein Wohlgefallen«-Mist zu hassen, bestanden seine Eltern auf einen großen, dicht gewachsenen Weihnachtsbaum. Einen zu finden, der ihren Ansprüchen genügte, konnte Tage, ja Wochen dauern. Sie mussten jeden Verkaufsstand im Umkreis von fünfzehn Kilometern aufsuchen und jeden Baum, der größer als zwei Meter war, in Augenschein nehmen. Die Verkäufer

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