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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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den Gastraum bemerkte er einen Stapel Immobilienbroschüren, nahm sich eine und blätterte sie durch, während er auf die bestellten Eier wartete. Die angebotenen Häuser, stellte er rasch fest, waren entweder unglaublich teuer oder kaum mehr als Baracken. »Können wir uns nicht leisten« und »Möchte ich nicht geschenkt haben«. Die alten Kategorien waren offenbar noch anwendbar. Was eine Frage aufwarf: Hätten sie das nötige Geld gehabt, wenn er die Drehbücher nicht aufgegeben hätte, um wieder an die Ostküste zu ziehen und Collegeprofessor zu werden? Schwer zu sagen. In L.A. hatte er viel Geld verdient, aber sie hatten auch eine Menge mehr ausgegeben. Es war eines der großen Mysterien im Leben seiner Eltern gewesen, dass nichts von dem, was sie taten oder nicht taten, ihre finanziellen Perspektiven merklich zu verändern schien. Auf einer der letzten Seiten der Broschüre und scheinbar völlig fehl am Platz war eine ganzseitige Anzeige für ein hochwertig ausgestattetes Heim für betreutes Wohnen in der Nähe von Hyannis, die ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Seine Mutter wusste, dass er auf dem Cape war. Hatte ihr Gespräch vielleicht die alte Leidenschaft geweckt? Er konnte sich gut vorstellen, wie sie mit Google nach Heimen für betreutes Wohnen auf dem Cape suchte. (Selbstverständlich recherchierte man mit Google.) Es war durchaus möglich, dass sie in Indiana in diesem Augenblick auf dasselbe Bild starrte wie er in Provincetown. Ein unheimliches Szenario und so plausibel, dass er, als sein Handy läutete, regelrecht überrascht war zu sehen, dass es nicht seine Mutter, sondern Joy war.
    »Wo bist du?«, fragte seine Frau und klang beinahe so verärgert wie zuvor seine Mutter, auch wenn sie immerhin Hallo gesagt hatte, bevor sie wissen wollte, wie weit er sich von ihren Erwartungen entfernt hatte.
    »Provincetown«, sagte er. »Ich bin früh aufgewacht.«
    »Wenn du nicht bald besser schläfst, musst du mal zum Arzt gehen.«
    In ihrer Stimme schwang jetzt echte Sorge mit, und dafür war er dankbar. Es stimmte, dass er in letzter Zeit nicht gut schlief: Er wachte ohne ersichtlichen Grund mitten in der Nacht auf und konnte dann nicht wieder einschlafen. Zweifellos der übliche Druck zum Semesterende. Er hatte bereits seinen Standardalptraum gehabt, in dem er an der Tür seines Vorlesungssaals einen Zettel vorfand, auf dem stand, die Veranstaltung sei in einen anderen Saal am anderen Ende des Campus verlegt worden. Wenn er dort eintraf, war dort ebenfalls nur ein Zettel. Und ganz gleich, wie sehr er sich anstrengte, seine Studenten einzuholen – sie entschwanden immer gerade am Ende eines unglaublich langen Korridors. All das würde vermutlich vorbei sein, wenn er die Noten geschrieben hatte.
    »Rate mal, mit wem ich gerade frühstücke«, sagte er, um das Thema zu wechseln.
    »Mit wem?«
    »Mit Al Fresco«, sagte er. Es war ein alter Witz, der ihm sicher nur deshalb eingefallen war, weil er sich auf dem Cape befand und im Freien frühstückte. Seine Eltern hatten stets Wert darauf gelegt, dass ihr Sommerhaus entweder eine Terrasse oder eine Veranda hatte, damit sie draußen frühstücken und »mit Al« die Zeitung lesen konnten, wobei sie seine Bitten, doch endlich an den Strand zu gehen, überhörten. In L.A. war dieser Witz bei ihm und Joy eine Zeit lang in Gebrauch gewesen, aber so gut war er dann auch wieder nicht, und so war er in Vergessenheit geraten.
    Dennoch war Griffin ein wenig gekränkt, als Joy fragte: »Al wer?«
    »Ich weiß nicht, wie’s bei dir war«, sagte er, »aber mein Tag hat nicht so gut angefangen.«
    »Ich weiß«, sagte Joy und klang jetzt erschöpft. »Hier hat sie auch angerufen. Damit ist das Semester wohl offiziell beendet.«
    Griffin hatte es so lange wie möglich hinausgezögert, Joy seinen Eltern vorzustellen, mit der Begründung, sie seien mitten in einer besonders hässlichen Scheidung. »Aber irgendwann lerne ich sie doch kennen, oder?«, hatte Joy, schon etwas misstrauisch, gefragt. »Ich meine, sie sind doch deine Eltern?« Er hatte gesagt: »Warum nicht auf der Hochzeit?«, und sie hatte gelacht und gedacht, er mache einen Witz. Im Lauf der Jahre war sie mit seinem Vater ganz gut zurechtgekommen, obgleich er nie genau zu wissen schien, wer sie eigentlich war, auch wenn sie neben seinem Sohn stand. Gewiss, sie lebten dreitausend Kilometer voneinander entfernt und sahen sich nur unregelmäßig, aber dennoch schien er jedes Mal übertrieben erfreut, ja

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