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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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erklären kann.«
    Griffin seufzte. Indem er sich über seine Mutter beklagt hatte, war es ihm gelungen, Joy von ihrem Thema abzubringen, doch nun hatte sie einfach einen Bogen geschlagen. Das Beste war, er brachte es hinter sich und entschuldigte sich. »Ich hätte auf dich warten sollen«, gestand er und hielt einen Augenblick inne, bevor er hinzufügte: »Ohne dich war es in Boston nicht schön.« Und als sie noch immer nichts sagte: »Ich wollte dich ärgern und hab letztlich nur mich selbst geärgert … Bist du noch da?«
    »Ja.«
    »Ich hoffe, du wartest nicht darauf, dass ich mich noch kleiner mache, denn mehr habe ich nicht zu bieten.«
    »Nein«, sagte sie. »Das sollte wohl reichen.«
    Als Griffin in der Pension eintraf, war es beinahe Mittag. Er brachte Reise- und Aktentasche auf sein Zimmer, sodass der Kofferraum bis auf die Urne seines Vaters leer war. Er war an ein paar abgelegenen, idyllischen Stellen vorbeigekommen, doch es ging ein frischer Wind, und er fürchtete, wenn er die Urne öffnete, könnte eine plötzliche Bö die Asche aufwirbeln und auf ihm verteilen. Außerdem hatte er das Gefühl, er würde sich weniger befangen fühlen, ein paar Worte des Gedenkens zu sprechen, wenn jemand bei ihm war, der sie hörte, und so beschloss er, auf Joy zu warten.
    Sein Vater war vergangenen September an einer schweren Embolie gestorben, unter höchst eigenartigen Umständen. Man hatte ihn auf dem Parkplatz einer Raststätte am Mass Pike in seinem Wagen gefunden. Wie die meisten Raststättenparkplätze war auch dieser riesig, und der Wagen seines Vaters hatte sich am äußersten Rand des Geländes befunden, weit von den anderen Wagen entfernt. Es war nicht klar, wie lange er schon dort gestanden hatte, bevor jemand die zusammengesunkene, mit dem Kopf am Fenster lehnende Gestalt auf dem Beifahrersitz bemerkt hatte. Wenn das getrocknete, verkrustete Blutrinnsal unter dem linken Nasenloch nicht gewesen wäre, hätte man meinen können, er mache ein Nickerchen. Doch warum hatte er nicht am Steuer gesessen? Das Handschuhfach war offen. Hatte er darin gekramt und nach etwas Bestimmtem gesucht? Der Straßenatlas auf dem Rücksitz war bei einer Karte von Massachusetts aufgeschlagen; am oberen Rand war Griffins Telefonnummer notiert. Die Zündung war eingeschaltet. Offenbar war der Motor so lange gelaufen, bis der Tank leer war.
    »Er wollte Sie wohl besuchen«, sagte der junge Polizist, als Griffin eintraf, um seinen Vater zu identifizieren.
    »Kann sein«, sagte Griffin.
    »Hat er nichts davon gesagt? Dass er Sie besuchen wollte?«
    Griffin verneinte und sagte, er habe seinen Vater zuletzt vor gut einem halben Jahr gesehen, und etwa genauso lange sei es her, dass sie miteinander telefoniert hätten.
    »Ist das normal?«
    Er wusste nicht, worauf der Mann hinauswollte. Normal für sie beide oder normal für Väter und ihre erwachsenen Söhne im Allgemeinen?
    »Ich meine, sind Sie nicht gut miteinander ausgekommen?«, fragte der Polizist. Er schien nicht so sehr misstrauisch als vielmehr traurig angesichts der Möglichkeit, die Beziehung zu seinem eigenen Vater könnte sich im Lauf der Zeit ähnlich entwickeln.
    »Nein, wir haben uns gut verstanden.«
    »Es sieht nur … ich weiß nicht. Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass er nicht am Steuer saß?«
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte Griffin, doch das stimmte nicht. Es ließ nur einen einzigen Schluss zu: Er hatte nicht am Steuer gesessen, weil er nicht gefahren war. Sein Leben lang hatte er hübsche Anhalterinnen mitgenommen, eine Gewohnheit, die Griffins Mutter schon immer wütend gemacht hatte. »Lieber ich als ein anderer«, war seine lahme Begründung gewesen. »Der Nächste, der hält, könnte ein Lustmolch sein.« (Worauf sie die Augen verdreht und gesagt hatte: »Nicht nur der Nächste.«) Die andere mögliche Erklärung war, dass er eine seiner Studentinnen überredet hatte, ihn zu begleiten. Er hatte sich zwar vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt, doch die Uni erlaubte ihm, in jedem Herbst ein Seminar zu veranstalten. Mehr als einmal hatte er angedeutet, die Studentinnen an christlichen Universitäten seien oft daran interessiert, das Leben und die Liebe in einer eher weltlichen Herangehensweise zu erforschen, sofern dies diskret bewerkstelligt werden könnte. Junge Männer ihres eigenen Alters seien jedoch weder erfahren noch diskret. Es war, erfuhr Griffin von dem Polizisten, tatsächlich eine Frau, möglicherweise eine junge Frau, gewesen, die anonym bei

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