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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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überhaupt: Wie schlau musste eine Frau sein, um schlauer zu sein als ein Mann, der derart pimmelgesteuert war? Jeder Mann mit einem Quentchen Selbstachtung hätte ihr Dissertationsmaterial sofort ins Kaminfeuer geworfen oder wenigstens in einen dunklen Schrank verbannt. Stattdessen ließ Griffins Vater es da liegen, wo es ihn vorwurfsvoll anstarrte – jawohl, ihm machte es Vorwürfe, nicht ihr –, bis ihm eines Abends, als er Schweinefleisch Mu-Shu direkt aus dem Karton aß, der Gedanke kam, der einfach kommen musste: Vielleicht nur eine kurze Einführung. Kann ja nicht schaden .
    Denn immerhin war er ja, und sei es unbewusst, von Anfang an beteiligt gewesen. Hatte er nicht dafür gesorgt, dass Claudias Thema eines war, das auch ihn sehr interessierte? Hatte er nicht die ganze Zeit gewusst, dass er ihr bis zur letzten Seite die Hand würde führen müssen? Was für einen Unterschied machte es da, wenn er das Ding gleich selbst schrieb? War es nicht einfach eine Frage der Effizienz? »Sag mir nicht, ich weiß nicht, wie der Verstand deines Vaters arbeitet, wie er etwas rationalisiert«, unterbrach Griffins Mutter ihn, als er Einwände machen wollte. Sie verstand die ganze Sache nur zu gut. Sobald er den Fuß auf diese schiefe Ebene gesetzt hatte, war er verloren. Beim Verfassen der Einleitung griff er auf das Quellenmaterial zurück und machte sich auf Karteikarten lange, aufgeregte Notizen über die Zielrichtung und die Hilfsargumente im Hauptteil der Arbeit, bis er irgendwann in den Weihnachtsferien einen neuen Bogen in seine IBM Selectric einspannte und schrieb: Kapitel 1 .
    Und dann geschah etwas Interessantes: Während er zuvor ängstlich-gespannt auf Claudias Rückkehr gewartet hatte, hoffte er nun, sie würde fortbleiben. Er hatte immer geglaubt, zwischen ihnen würde es eine … nun ja, eine Zusammenarbeit im besten Sinne geben. Natürlich würde Claudia diejenige sein, die die Arbeit schrieb, doch er würde in Reichweite sein, Anmerkungen und Ideen beisteuern und darauf achten, dass sie das Ziel nicht aus dem Blick verlor. Basierten nicht alle Dissertationen letztlich auf Zusammenarbeit? Wenn nicht, warum gab es dann die Institution des Doktorvaters? Doch jetzt dachte er: Scheiß drauf! Er kam gut voran, arbeitete bis spät in der Nacht und vernachlässigte eigentlich sogar seine eigenen Lehrveranstaltungen. Er war im Fahrwasser, und Claudias Anwesenheit wäre nur hinderlich gewesen. Vielleicht würde er sie in den Frühjahrsferien in Atlanta überraschen. Aber dann kamen die Ferien, und er beschloss, durchzuarbeiten (und das war auch gut so, sagte Griffins Mutter, denn Claudia war ja ohnehin nicht in Atlanta und nie in Atlanta gewesen). Wenn alles gut ging, würde er die erste Fassung vor dem großen Endspurt zum Semesterende fertiggestellt haben. Dann konnte sie ihm bei der Überarbeitung helfen und sich mit seinen Methoden und Schlüssen vertraut machen, denn natürlich würde sie die Disputation allein bestreiten müssen (obwohl er dabei sein und ihr, wenn nötig, ein Rettungsseil zuwerfen würde).
    Vielleicht wäre alles gut gegangen, aber im April bekam er eine Grippe. Irgendwann erwachte er zitternd und in Fötusstellung auf dem Badezimmerboden und wusste nicht mehr, wie er dorthingekommen war, auch wenn der Zustand des Badezimmers deutlich verriet, dass es dringend gewesen war. Halluzinierte er, oder hatte Claudia tatsächlich am Tag zuvor angerufen und gefragt, wie er mit der Dissertation vorankomme? Hatte sie ihn ausgelacht, als er gesagt hatte, diese sei fast fertig?
    Schließlich hatte er die Grippe überstanden, gewann jedoch weder seine Kraft noch das Gewicht wieder, das er durch häufige Übelkeit und das Auslassen von Mahlzeiten verloren hatte. Aber: Die Arbeit war fertig, und er war stolz . Erst als Claudia Ende August, gerade als er zu dem Schluss gekommen war, dass sie nie mehr zurückkehren würde, doch noch zurückkehrte, traf ihn die Erkenntnis der Tragweite seines Handelns mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Nicht so sehr der Tatbestand des Betruges als vielmehr die Tatsache, dass dies sein Buch hätte sein können. Es war höchstwahrscheinlich das Beste, was er je geschrieben hatte. Alle guten Universitätsverlage und vielleicht sogar ein paar Publikumsverlage hätten sich darum gerissen. Gut möglich, dass echtes Geld geflossen wäre, im Gegensatz zu den von den Universitäten ausgegebenen wertlosen Berechtigungsscheinen, die nur innerhalb der akademischen Welt eingelöst werden

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