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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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wir ja keine Wolkenkratzer.« Bei einem Fundament sei eine Abweichung um eine halbe Blase keine große Sache, erklärten sie Griffin, es sei denn, das Haus solle dreißig Stockwerke haben. Eine halbe Blase mal dreißig Stockwerke – das wäre dann allerdings schon ziemlich aus dem Lot. Und so, wurde ihm jetzt bewusst, hatte er sich vor zwei Tagen gefühlt, als er seine Sachen gepackt hatte und allein nach Boston gefahren war: wie im dreißigsten Stock eines Hauses mit einer halben Blase Abweichung. Eben noch im Lot, aber jetzt plötzlich nur noch mehr oder weniger  im Lot.
    Bei Geschichten war es ganz ähnlich, dachte Griffin und schob »Der Sommer mit den Brownings« wieder in die Aktentasche: Am Anfang war ein falscher Ton heikler als am Ende, weil frühe Fehler zu einem Teil des Fundaments wurden. Das war das Problem mit den meisten Drehbuchentwürfen seiner Studenten – Griffin wusste es, ohne sie gelesen zu haben. Die Geschichten endeten nicht überzeugend, weil sie am Anfang irgendeinen kritischen Fehler enthielten. Trotz seines Mangels an Begeisterung würde er in den nächsten Tagen das wacklige Gerüst jeder einzelnen Geschichte seiner Studenten auf solche Fehler untersuchen und herausfinden, wie sie zu beheben waren, sollten die Autoren das wollen. Sie würden es allerdings nicht wollen. Das wusste er, weil er seine eigene Geschichte im Grunde auch nicht überarbeiten wollte. Wenn der Fehler irgendwo im Fundament steckte, an einer Stelle, die er mit den verfügbaren Mitteln nicht erreichen konnte, dann sollte sie ruhig eine halbe Blase Abweichung haben. Dann war es besser, sie zu vergessen und etwas ganz Neues anzufangen.
    Er hoffte sehr, dass Sid etwas für ihn hatte.

5
    KVONKEI
    Am Abend ging Griffin zu einem Steakhouse, nicht weit von seiner Pension entfernt. Die Olde Cape Lounge hatte eine wie in Bernstein konservierte Fünfziger-Jahre-Atmosphäre, war aber sehr voll: Die Schlange der Gäste, die auf einen Tisch warteten, reichte bis vor die Tür. An der Bar gab es jedoch einen freien Hocker. Er setzte sich darauf und musterte mit zusammengekniffenen Augen das Schild an der Wand, auf dem in verzierten gotischen Lettern stand:
    Verw eileunt ermen schenhi
    Erse ifre undli chund turech
    Tess eigue tigfro ehl ichgut gela un
    Tundden kvonkei nems chle ehtes
    Die Worte, fremdartig und doch irgendwie vertraut, erinnerten ihn an mittelalterliche Gedichte, die er vor langer Zeit auf dem College gelesen hatte. Ermen, undli, ichgut und tess klangen beinahe geläufig und hätten eigentlich bei der Entzifferung des Ganzen hilfreich sein müssen, waren es aber nicht. Obwohl es keine Bedeutung transportierte, gefiel ihm kvonkei besonders gut.
    Als Laura klein gewesen war, hatte sie lange Listen mit Wörtern aufgestellt, die sie einzig und allein wegen ihres Aussehens oder Klangs mochte oder verabscheute. Auf welcher Liste hätte kvonkei  wohl gestanden?
    »Nach ein paar Martini verstehen Sie’s«, sagte der Barmann, als er sah, dass Griffin das Schild studierte.
    »Versprochen?«
    »Absolut.«
    »Na, dann einen mit Grey Goose.«
    »Sofort.«
    Im Spiegel hinter dem Tresen bemerkte Griffin einen Asiaten, etwa Ende zwanzig. Er trug einen gut geschnittenen dreiteiligen Anzug und eine schöne Krawatte und betrachtete ebenfalls das Schild. Als ihre Blicke sich im Spiegel trafen, lächelte er und nickte, als wollte er sagen: Okay, ich hab’s raus. Und Sie? Griffin hoffte, dass sein Blick als: Ja, na klar, ich auch , interpretiert werden konnte, und widmete sich dann seinem Handy, bis der Martini vor ihm stand, denn er wollte nicht von einem einsamen Touristen, der möglicherweise kaum Englisch konnte, in ein Gespräch verwickelt werden. Wie aufs Stichwort meldete der Apparat mit einem Vibrieren eine eingehende E-Mail: Sie war von Joy, die schrieb, die Besprechungen hätten lange gedauert, doch nun sei sie endlich unterwegs und werde noch irgendwo anhalten, um etwas zu essen – gegen zehn werde sie wohl da sein. Das war natürlich reines, unverfälschtes Kvonkei. An einem Freitagabend im Sommer, wenn alles auf der I-95 in Richtung Cape fuhr, konnte sie unmöglich vor elf ankommen.
    Und apropos Kvonkei: Er selbst hatte heute nur zwei Dinge zu erledigen gehabt – er hatte einen ersten Blick auf die Arbeiten seiner Studenten werfen und die Asche seines Vaters verstreuen wollen – und keins von beiden erledigt. Das mit der Asche wog schwerer, und er hätte es tun sollen, ganz gleich, ob es windig gewesen war oder nicht.

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