Diese alte Sehnsucht Roman
Er schien mehr zu sich selbst als zu Griffin zu sprechen. »Sie braucht nur …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, wie um einzugestehen, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, was seine Frau brauchte, und knabberte weiter an seinem Daumen herum.
Sie hörten, wie seine Mutter unten Küchenschränke öffnete und schloss. »Kein Weinglas«, sagte sie, »kein einziges verdammtes Weinglas.« Dann rief sie zu ihnen hinauf: »Bill! Du wirst es nicht glauben!«
»Ich muss«, sagte sein Vater, grinste verlegen und ging hinunter.
In dem Zimmer gab es keine Kommode, und so legte Griffin seine Kleider auf das eine Bett und schob den Koffer darunter. Er glaubte aus dem Dunkel des Schränkchens ein Rascheln zu hören und stieß die Tür mit dem Fuß zu. Dann kniete er sich auf das Bett und sah hinaus. Selbst bei offenem Fenster war es in dem Raum heiß und stickig, die Brise bauschte kaum den Vorhang. Auf dem Fensterbrett lag eine große grüne Fliege auf dem Rücken und summte kraftlos. Sie war zwischen Fenster und Fliegengitter eingesperrt gewesen, und jetzt, da das Fenster geöffnet war, hätte sie davonfliegen können, doch ihr Geist – sofern sie einen besaß – hatte sich nicht auf die neue Situation eingestellt. Sie war noch immer gefangen in der alten, aussichtslosen Realität. Griffin sah zu, wie das dumme Tier summte und brummte, bis er hörte, wie unten eine Tür geöffnet wurde, und seine Mutter auf die Veranda trat, wo sie mit verschränkten Armen stehen blieb. Als einen Augenblick später sein Vater erschien, konnte Griffin seine Schädeldecke sehen: Aus den kleinen roten Pünktchen war ein großer blauer Fleck geworden.
»Siehst du?«, sagte er und beugte sich vor, um ihn ihr zu zeigen.
»Gut«, sagte sie.
»Und hier auch.« Er zeigte ihr den Splitter, und sie verzog schmerzhaft das Gesicht. Irgendetwas an dieser kleineren Verletzung berührte sie offenbar auf eine Art, wie es die größere nicht vermochte.
»Du siehst schrecklich aus«, sagte sie nicht unfreundlich.
Sein Vater senkte die Stimme, aber Griffin hörte ihn dennoch. »Sie bedeutet mir gar nichts. Das weißt du.«
Seine Mutter schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass wir so was nicht mehr tun. Alle beide.«
»Ja, das haben wir. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich hasse mich selbst. Wirklich – du weißt nicht, wie sehr. Ich weiß nicht, warum du noch etwas mit mir zu tun haben willst.«
Seine Mutter ließ zu, dass er sie in die Arme nahm, und so standen sie lange da, ohne etwas zu sagen. »Na gut«, sagte sie schließlich, als hätte sie soeben etwas Großes losgelassen, das sie eigentlich hatte festhalten wollen. »Wir sind auf dem Cape.«
»Und es ist schön.«
Sie nickte und musterte nochmals das Haus und die Umgebung. Obgleich sich nichts verändert hatte, merkte Griffin, dass die Dinge für sie jetzt besser aussahen als vor zehn Minuten. Sie nahm die Hand seines Vaters und untersuchte sie eingehender. »Komm«, sagte sie, »lass uns mal sehen, ob wir eine Pinzette finden.«
»Hallo, Indiana!«, erklang eine herzliche Männerstimme, und Griffin sah, dass die beiden Kinder und ihre Eltern sich freundlich winkend näherten. Offenbar hatten sie das Nummernschild des Wagens gesehen. Griffins Eltern erstarrten angesichts der Tatsache, dass man sie mit dem Scheiß-Mittelwesten in Verbindung brachte. Als sie sich umdrehten, um die andere Familie zu begrüßen, konnte er ihre Gesichter nicht mehr sehen, wusste aber, dass sie ihr starrstes, gezwungenstes Lächeln aufgesetzt hatten, ein Gesichtsausdruck, der zwar niemanden überzeugte, aber eine gewisse Autorität besaß, weil er bei beiden identisch war. Er bemerkte, dass seine Mutter den Arm um die Taille ihres Mannes gelegt hatte, was bedeutete, dass sie, jedenfalls gegenüber diesen Leuten, wieder eine geschlossene Front bildeten, vereint in Verachtung.
Seltsam, dachte Griffin, schlug die Augen auf und fand sich in der Gegenwart wieder. Nichts von dieser Szene hatte er in »Der Sommer mit den Brownings« verwendet. Die Geschichte hatte von den Brownings handeln sollen, und seine Eltern – oder vielmehr die Eltern des Jungen in der Geschichte – hatten ohnehin schon zu viel Raum eingenommen. Er wollte sich auf die Freundschaft mit Peter konzentrieren, und eine Nebenhandlung sollte seine Verliebtheit in dessen Mutter und das Erwachen der Sexualität eines Zwölfjährigen schildern. Nur dass es in Wirklichkeit gar nicht darum gegangen war.
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