Diese alte Sehnsucht Roman
Griffin verlor das Gleichgewicht. Um es wiederzuerlangen, streckte er die Arme seitwärts aus wie ein Surfer. War das der Augenblick, in dem er die Urne fallen ließ, oder hatte die nächste Welle sie ihm aus den Händen geschlagen? Er wusste es nicht mehr. Eben noch hatte er sie gehalten, und im nächsten Augenblick war sie in den schäumenden Wogen verschwunden. Verloren , dachte er, als er hinterherstürzte und mit beiden Händen im Wasser tastete wie ein Blinder, bis die nächste, größere Welle ihn umwarf. Er kam auf die Beine und dachte: Mein Vater ist verloren. Eigentlich lächerlich. Immerhin war er ja schon seit neun Monaten tot. Doch verloren war er erst jetzt, in diesem Augenblick, und das war irgendwie schlimmer als tot , denn tot war etwas, für das Griffin nicht verantwortlich gemacht werden konnte.
Wie lange stand er da, gelähmt, entsetzt über seine Unbeholfenheit, seine Unfähigkeit, während Welle um Welle an ihm vorbei gegen den Strand brandete? Tu doch was , dachte er panisch – aber was? Wie oft hatte er als Junge seinen Vater mitten im Raum verharren sehen, der Inbegriff der Unentschlossenheit, ohne irgendeine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, während eine wütende Ehefrau ihn in die eine Richtung zerrte, wogegen eine hübsche Doktorandin, die ihn mit dem romantischen Helden des von ihnen analysierten Romans verwechselte, ihn in die entgegengesetzte Richtung zog? Es war, als wäre er zu dem Schluss gekommen, dass das, was er sich am meisten ersehnte, von allein kommen würde, wenn er nur lange genug blieb, wo er war. Griffin erinnerte sich, dass er seinen Vater durch bloße Willensanstrengung hatte bewegen wollen zu handeln, irgendetwas zu tun , denn es machte ihm Angst, jemanden derart lange wie festgewachsen dastehen zu sehen, unfähig, den entscheidenden ersten Schritt zu tun, der eine Richtung vorgab. Jetzt, als er bis zum Bauch in der Brandung stand und der Sand unter seinen Füßen gefährlich in Bewegung geriet, begriff er endlich. Es war natürlich das Tun gewesen, das ihn in diese kritische Lage gebracht hatte, und nun, da er das Falsche getan hatte, etwas, das er, wäre er umsichtig gewesen, nie getan hätte, gab es nichts weiter zu tun , als darauf zu hoffen, dass das Schicksal – nicht gerade bekannt für Mitgefühl – zu seinen unverdienten Gunsten intervenierte.
Was es, gegen alle Logik und Erwartung, dann schließlich auch tat: Die gefürchtete Unterströmung brachte die Urne in einem Wirbel von Wasser und Sand zurück und warf sie gegen Griffins Knöchel, und diesmal fanden seine tastenden Hände sie. Er hob den Behälter hoch, dessen Klammern wunderbarerweise noch geschlossen waren.
Gefunden . Das war das Wort, das ihm durch den Kopf schoss – es war wie ein Synonym für Triumph .
In der Pension hatte Joy bereits gepackt und wartete auf ihn. Sofern sie den Zustand seiner Kleider bemerkte, sagte sie nichts, ebenso wenig über die Tatsache, dass, als Griffin den Kofferraum öffnete und die Taschen hineinwarf, sein Vater noch immer darin war. Ihr Schweigen war eine beredte Anklage. Er erwog, ihr zu erzählen, er sei zufällig auf den Ort gestoßen, wo er und seine Eltern Urlaub gemacht hätten, als er zwölf gewesen sei, und wisse jetzt, wie er »Der Sommer mit den Brownings« umschreiben müsse. Aber warum sollte sie das interessieren?
Sie fuhren schweigend auf der Route 6 bis Hyannis und dann auf der Route 28 nach Falmouth. Einmal vibrierte sein Handy, doch er sah, dass der Anrufer seine Mutter war, und leitete ihn auf die Mailbox um. Er war einfach zu niedergeschlagen, um mit ihr zu sprechen, besonders da Joy neben ihm saß. Alte Gewohnheiten waren am hartnäckigsten, zum Beispiel die, nur dann mit seiner Mutter zu telefonieren, wenn er allein war. In Falmouth luden sie Joys Tasche in ihren Geländewagen – ein in seiner Symbolik verstörender Akt, da sie ja beide in dieselbe Richtung fuhren: nach Hause.
Griffin folgte Joy in Richtung Bourne Bridge. Er musste jetzt über die Zukunft nachdenken und herausfinden, wie sie wieder dorthin kommen könnten, wo sie am Abend von Kelseys Hochzeit gewesen waren. Schwer zu glauben, dass das erst vierundzwanzig Stunden her war. Es fühlte sich an, als sei seitdem ein ganzes Leben vergangen, als seien Joy und er immerfort das Cape hinauf- und hinuntergefahren wie Verlorene. Seltsam, dass es so schwer war, die Zukunft in den Blick zu bekommen, während die Vergangenheit sich ungebeten aufdrängte. Laut seiner Mutter hatte er
Weitere Kostenlose Bücher