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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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Der Gedanke, zwischen seinen Eltern könnte grundsätzlich etwas im Argen liegen, war in jenem Sommer nicht neu gewesen. In seiner Kindheit war es eine Konstante, dass sie – sowohl gemeinsam als auch jeder für sich – unglücklich waren. Darum brauchten sie das Cape, und zwar mit jedem Jahr mehr: damit ihre Beziehung, und sei es nur für eine Weile, wieder gut war. Der Sommer mit den Brownings war nur der erste gewesen, in dem er begonnen hatte zu begreifen, wo das Problem lag. Wenn seine Sexualität wirklich in jenem Urlaub erwacht war, dann nur insofern, als er damals erkannt hatte: Bei dem Problem seiner Eltern ging es um Sex. Genauer hätte er es nicht sagen können, und er hatte weder zusätzliche Informationen noch weitere Erläuterungen gewollt. Ja, eigentlich hatte er sich in diese andere, glücklichere Familie geflüchtet, um sich solche Informationen und Erläuterungen zu ersparen. Die Brownings hatten ihm die Zuflucht geboten, die er brauchte; jede andere glückliche Familie hätte vermutlich denselben Zweck erfüllt, und das bedeutete, dass er die Geschichte jenes Sommers nicht erzählt, sondern vielmehr vermieden hatte. Darum war der verwirrte Tommy auch zu dem Schluss gekommen, dass sie von einem Jungen handelte, der entdeckte, dass er schwul war. Das arme Kerlchen , hatte er gesagt und vielleicht geahnt, dass sein Freund die eigentliche Geschichte gar nicht erzählt hatte. Griffin blickte hinauf zu dem dunklen Fenster unter dem Giebel und erwartete halb, dort oben sein eigenes besorgtes zwölfjähriges Gesicht zu sehen.
    Die Ironie des Ganzen, dachte er, hätte sogar Tommy gefallen, der ihn einst im Scherz gebeten hatte, ihm das Konzept der Ironie zu erklären. Griffin hatte in dieser Geschichte nämlich genau das getan, was er, so der Vorwurf seiner Frau, während ihrer ganzen Ehe getan hatte: Er hatte erfolglos versucht, seine Eltern auszusperren. Von Anfang an, vom Anfang der Geschichte, vom Anfang der Ehe an hatten sie es trotz all seiner Bemühungen geschafft, sich einzumischen. Auf Joys Vorschlag hin, die Flitterwochen an der Küste von Maine zu verbringen, hatte er sie überzeugt, sie bräuchten eine Dosis des alten Cape-Zaubers, dieses schwächsten aller Ehezauber. In Truro hatten sie Pläne für ihr zukünftiges Leben gemacht, basierend auf Vorstellungen, die sie törichterweise für ihre eigenen hielten. Joy hatte gesagt, was sie wollte, während Griffin (und das verriet einiges) gesagt hatte, was er nicht wollte: eine Ehe, die auch nur entfernte Ähnlichkeit mit der seiner Eltern hatte – als wäre diese negative Definition ein eleganter Ersatz für eine positive. Er hatte zwar ihre Werte abgelehnt, aber zugelassen, dass sich viele ihrer Überzeugungen – zum Beispiel die, dass das Glück ein Ort war, den man besuchen, aber niemals besitzen konnte – tief in ihn eingruben. Er verabscheute ihren Snobismus und ungerechtfertigten Dünkel, hatte sich aber das Gedankengebäude, auf dem diese Haltung basierte, zu eigen gemacht. Joys Überzeugung, dass nicht ihre, sondern seine Eltern die eigentlichen Eindringlinge in ihrer Ehe waren, schien auf den ersten Blick lachhaft, doch nun erkannte er, dass sie recht hatte. Sie waren noch immer da: Seine Mutter lebte im Exil des Scheiß-Mittelwestens (was nur gerecht war) und ließ sich von Möwen vertreten, und sein Vater bestand zwar mittlerweile nur noch aus Asche und Knochenstückchen, weigerte sich aber zu verschwinden.
    Er hatte es versucht. Joy würde es wahrscheinlich nicht glauben, aber er hatte es wirklich versucht. Er war gescheitert, er hatte sich töricht und ungeschickt angestellt, aber war er nicht der Sohn seines Vaters? Er war gut zwanzig Meter in das kalte Meer gewatet, hatte den Wellen den Rücken zugekehrt und seinen Vater mit beiden Händen gehalten wie ein Priester den Abendmahlskelch, als gehörte es zu einer idiotischen Liturgie, dass er die Urne bis zum Augenblick des Untertauchens trocken hielt. Er hat dich das ganze Jahr heimgesucht , hatte Joy gesagt. Und jetzt, in diesem Augenblick, ist er im Kofferraum deines Wagens, und du bringst es nicht über dich, seine Asche zu verstreuen. Meinst du nicht, das hat vielleicht etwas zu bedeuten? Aber hier, bei Gott, würde er, sobald er bis zum Bauch im Wasser war, dieser Farce ein Ende machen.
    Aber als er die Urne in die wirbelnden Wellen tauchte und die Daumen unter die Blechklammern schob, gab mit der von seinem Vater so gefürchteten Unterströmung der Boden unter ihm nach, und

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