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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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konnte sie lesen – oder, genauer gesagt
hören
. Als wären ihre Gedanken Wörter mit ihrer Stimme in seinem Kopf, oft nur Schnipsel, aber klar, und noch klarer waren die Gefühle, die zu den Gedanken gehörten; er konnte fühlen, was sie fühlte.
    Er weiß immer noch nicht, wann er den Empfang verloren hat. Es war nicht in Nigeria, trotz des ganzen Grauens dort. Nach dem College oder als er sie das letzte Mal gesehen hat oder schon vorher? Er traut seinem Gedächtnis nicht. Das Aufschlitzen der Pulsadern hat seine Erinnerungen vermischt, sie umgruppiert. Die Archive sind noch da, aber alle durcheinander. Er weiß nicht mehr, wie alt er war, als dies oder jenes passiert ist: kann nicht sagen, in welchem Land er in welchem Jahr gelebt hat. Er weiß, dass irgendwann die Leitung gestört war, und dann war sie ganz tot. Er spürt seine Schwester noch – ihre Gegenwart ist für ihn immer noch wie der Raum zwischen zwei Magneten, wenn man mit dem Finger durchfährt –, aber er hört sie jetzt nicht mehr, also kennt er sie nicht mehr.
    Funkstille.
    »Er ist nicht mehr da«, hat sie zum Lachen gebracht, und er konnte nicht hören, warum.
    Er blinzelte traurig, als er aus dem Taxi kletterte und einen Moment stehen blieb, um sich zu fassen. Die Sonne fiel in schrägem Winkel auf ihn, alles verschwamm in dem grellen Licht, er beschattete die Augen mit der Hand, und als er sich ein bisschen drehte, fiel sein Blick auf Lings Gesicht. Nein, keine Ähnlichkeit. Es war alles nur verzerrt – der Winkel, die Sonne, die Traurigkeit, der Schatten –, aber wie sie da neben Olu stand, sah sie genauso aus wie eine gewisse Ärztin namens Dr. Yuki.
    6
    Kurz bleibt Fola in dem Flur zwischen den Schlafzimmern stehen, um auf Stimmen hinter den geschlossenen Türen zu horchen. Selbst in der Stille spürt sie die Körper, empfindet ihre Anwesenheit als genauso seltsam, wie sie früher ihre Abwesenheit empfunden hat. Sie erinnert sich genau daran, wann sie die Abwesenheit das erste Mal spürte: an einem Vormittag, einem völlig normalen Vormittag im Rückblick (aber so ist es anscheinend immer mit Offenbarungen, die Banalität des Kontexts ist ebenso verblüffend wie der Inhalt):
    irgendein Montagmorgen in Boston, im April, diesem Monat mit dem seltsamen Namen, irgendwie irreführend, schon wie er klingt, »April«, ganz offen, Pastellfarben, keine Spur von den gnadenlosen grauen Regengüssen. Ihr Ehemann hatte spät im Oktober von einer Telefonzelle in Baltimore angerufen, um ihr zu sagen, dass er weg sei und nicht zurückkommen werde; sie hatte nachts in dem gemeinsamen Schlafzimmer gelegen und daran gedacht, wie er am Morgen aus der Küche gegangen war. Als er ging, hatte sie an der Arbeitsplatte gestanden und für die Kinder Frühstück gemacht und nur kurz gesehen, wie er aus dem Raum verschwand, aber sie hatte gehört, wie er vom Vorraum »Tschüs!« rief und dann noch »Ich liebe dich!« Sie hatte auf Yoruba geantwortet,
Ich weiß
, »Mo n mo«. Sein Anruf um Mitternacht kam so unerwartet, so absolut aus dem Nichts – sie konnte nicht denken, nicht zuhören, nicht vernünftig reagieren; sie konnte nur daliegen und weinen und an den Vormittag denken, an seine Stimme von der Tür. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, mit verquollenen Augen, waren ihre Tränenkanäle ausgetrocknet, und ihr Schmerz war kalt geworden. Fort, er war fort,
tja, das Leben geht weiter,
man konnte im Lauf eines Lebens nur
so viel
trauern. Sie waren pleite, stellte sie fest, also verkaufte sie das Haus (Winter), quetschte die Kinder in eine Mietwohnung am Rand eines Parkplatzes mit Blick auf die Route  9 , aber wenigstens im selben Schulbezirk, zwei kleine Schlafzimmer, ihr »Bett« das Sofa; sie bezahlte die Schulden, suchte sich einen Anwalt, ließ sich scheiden (Frühlingsanfang); brachte die Zwillinge auf den Flughafen und Olu nach Yale (Sommerende); ein verschleierter Herbst, ruhige Weihnachten, sie und Sadie, dann Neujahr, und der Schnee verwandelte sich langsam in Regen …  
    und dann eines Tages im April, an einem normalen Vormittag, ging sie in die Küche, um sich einen Tee zu machen, nachdem sie das Baby in Gummistiefeln zur Bushaltestelle gebracht hatte. Im Radio leise Musik, noch leiser rauschte der Regen. Da blieb sie im Flur stehen, zwischen den beiden Schlafzimmern, und bemerkte die Stille. Und dass sie allein war.
Fort, sie sind fort
, die Stimmen, die Körper, ein Geliebter, vier Kinder, ihr Herzschlag, das Summen, Wärme und

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