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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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zur anderen: mehr Bäume, Carvel-Eis, Lichterketten, die von der Stadt aufgehängt wurden. Seine Ecke hier wirkte an diesem Morgen besonders hässlich, Bäume und Häuser ohne Leben, eine dünne Schmutzschicht lag auf den grauen Schneeverwehungen, ein einsamer Pitbull bellte, von irgendwo hörte man eine Bassgitarre. Hier und da ein Plastik-Santa Claus und klägliche Weihnachtslichter, über die Zweige geworfen wie Ketten aus billigen Glitzersteinen, wodurch das Elend nur noch schlimmer wurde. Alle Bemühungen waren vergeblich. Nichts half. Das Grau besiegte jeden Anflug von festlicher Stimmung.
    Warum wohnen wir hier
?, fragte er sich, plötzlich wütend,
in diesem Grau
? Wie Schatten, Kreaturen aus Asche, deren zerbrechliche Wohlstandsträume beherrscht wurden von der leisen Angst, dass alles eines Tages einfach in sich zusammenfallen könnte? Hatten sie etwas an sich, das sie in der Luft hängen ließ, trotz ihrer Intelligenz und obwohl sie so hart arbeiteten? Wenn das stimmte, warum konnten sie dann ihre Lage nicht einfach akzeptieren und sich bei den Armen niederlassen, die in Würde lebten? Er dachte an seine Klassenkameraden, die reichen in Brookline, die armen in Metco, und er irgendwo dazwischen, irgendwo in der Mitte steckengeblieben, ohne den Trost einer Gruppenzugehörigkeit, beschämt und verängstigt. Er wusste, dass seine Eltern, auch wenn sie das versteckten, gelitten hatten, dass sie vielleicht immer noch litten, aber unsichtbar. Und dass es ihre Last erleichterte, wenn sie denken konnten, dass ihre Kinder nicht leiden mussten – und trotzdem stand er jetzt hier. Der Beste seines Jahrgangs, in einer Highschool, die er hasste, vor allem, weil der Schulbus ihn dort hinkutschierte, als wäre er ein Immigrant, ein Ausländer, ein Einheimischer in Sachen Begabung, ein Fremder in Sachen Privilegien, der mit dem Bus abgeholt und dann wieder nach Hause geschickt wurde. Ein ausgezeichneter Sportler: der Wettbewerbe hasste, dem übel war vor Angst, bevor er aufs Feld lief, auch wenn er sie verbarg, die Panik, die blanke Verzweiflung, die ihn zum Sieg trieb, immer noch atemlos vor Angst. Weil er wusste, dass sein Vater für die Prep School sparte, hatte er sich vorgenommen, nur noch Bestleistungen abzuliefern (denn wenn er da wohnen würde, wo er lernte, als Untermieter, mit Dauervisum, umgeben von Grün, dann könnte er das Grau abschütteln, das an seiner Ecke klebte, an seinem Platz in der schattigen Kluft zwischen den Welten).
    Er dachte an diese Schatten, als er nach oben schaute und sie am Fenster des Kinderzimmers sah, selbst ein Schatten. Offenbar konnte sie ihn nicht sehen. Oder sie sah ihn, blickte aber durch ihn hindurch, als wäre er ein Teil des Grau, ein Geist. Er wollte, dass sie lächelte oder ihm vom Fenster aus etwas zurief, ihn zurechtwies, weil er so eine dünne Jacke anhatte, aber Fola starrte nur blicklos, schaukelte vor und zurück. Er ging zurück ins Haus, in das Kinderzimmer (eigentlich ein begehbarer Schrank).
    »Mom?«, sagte er leise.
    Sie hörte nicht auf zu schaukeln. Sie zog an ihrer Zigarette. »Komm rein, Schatz«, sagte sie, während sie den Rauch ausatmete. Er ging zu dem Schaukelstuhl und blieb hilflos neben ihr stehen, wusste nicht, ob er sie berühren sollte. Sie schauten jetzt beide hinaus in den Schnee. »Gefällt sie dir? Die Farbe, meine ich«, fragte sie nach einer Weile.
    »Das Grau?«
    »Hier. Das Rosa.«
    Er betrachtete die Wände. »Gut für ein Mädchen.«
    »Für ein Mädchen.« Sie lachte. »Ja. Ich hatte ein Zimmer mit der gleichen Wandfarbe.« Dann abrupt, ohne Zusammenhang: »Man kann doch nicht immer nur verlieren und den Verlust akzeptieren – was soll dann das Ganze? Ich weiß es nicht. Das ist die Frage. Wenn sie immer nur sterben – mein
baba
, mein Baby – warum dann überhaupt lieben?« Sie schaute ihn mit leeren Augen an. »Verstehst du, was ich meine?«
    Er hatte keine Ahnung, was sie meinte.
    »Na, so was – du zitterst ja«, sagte sie. »Ist die Heizung an?«
    In dem kleinen Kabuff kam man fast um vor Hitze, die Heizung war voll aufgedreht. »Ich schau mal nach«, log er, weil er unbedingt weg wollte. »Brauchst du irgendetwas?«
    »Meine Tochter. Lebendig.«
    Sein Vater kam zurück, und seine Mutter erholte sich, aber irgendetwas hatte sich verändert, auch wenn man noch nicht sagen konnte, was. Fola war erfüllt von »Sadé«, der Neugeborenen, Kweku, gerade fertig mit der Facharztausbildung, jetzt mit dem Gehalt eines Chirurgen, war

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