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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Ecke des Flughafens, wo die Zirkusnummer des Check-ins gerade losging. Passagiere mit Flugkarten wurden wahllos abgewiesen und protestierten lauthals, das Check-in-Personal schrie noch lauter: »Kein Grund, so zu schreien!«, ganze Familien flehten um Gnade mit ihrem viel zu schweren Gepäck, zerrissen Sacktuch und knirschten mit den Zähnen, auf dem Fußboden um Olu herum wurden Taschen ausgepackt und umgepackt (Geschenke, Lebensmittel, Dosen, Kleidung, Spielzeug, alles zu seinen Füßen ausgebreitet). Die Stufen hinauf zum Flugzeug, dann zehn Stunden später die Stufen hinunter in die stickige Luft.
    Um den Anlass zu vergessen.
    Aber da war noch etwas anderes, außer der grauenvollen Vorstellung, dass er da auf der Bühne stehen würde, in der Sonne und ohne Familie, die ihm zujubelte, weder Eltern noch Geschwister. Um alles wirklich aus dem Gedächtnis zu löschen war mehr erforderlich. Um die Hoffnung zu verbrennen – wie er es geplant, sich gewünscht haben musste, denkt er jetzt –,
brauchte
er das, was dann passierte. Etwas, das noch heißer brannte als vergessen zu werden, eine Verbrennung, die man nur erlebt, wenn man betrogen wird.
     
    Sein Vater sah jünger aus als in seiner Erinnerung. Oder kleiner. Er war immer klein gewesen, beziehungsweise, wie Benson es ausdrückte, »nicht groß«, vielleicht einsfünfundsiebzig, genau wie Fola, mit kräftigen Armen und Schultern und den sehnigen Beinen eines Läufers. Aber er wirkte
klein
in der Menschenmenge, die dort wartete, in diesem dichten Gemisch aus Primärfarben und Klängen, aus Männern und Frauen, die Männer alle eher klein, wie Olu konstatierte, alle mit starken Armen und glatter Haut und schockierend braun.
    Sein ganzes Leben hatte er, wenn er nach seinem Vater Ausschau hielt so wie jetzt, wenn er Kwekus Gesicht bei Wettkämpfen auf der Tribüne oder im Auditorium bei Konzertauftritten suchte, immer auf den Kontrast geachtet; zuerst und vor allem hatte er ein braunes Gesicht gesucht. Ein etwas bläuliches Braun, am ehesten vergleichbar mit Schokolade oder Kaffee, die gleiche Hautfarbe wie er selbst – und die sonst niemand hatte, kein anderer Vater in Boston. Auf Grund seiner Farbe konnte er Kweku immer blitzschnell ausmachen. Hier auf dem Flughafen suchte sein geübter Blick ebenfalls nach dem Kontrast, und er blinzelte verdutzt: Hier hatten
alle
diese Farbe, mehr oder weniger, alle Väter, sein eigener glich sich optisch an, war nicht zu unterscheiden, war wie die anderen. Als sein Blick schließlich auf einen Mann abseits der Menge fiel, einen Mann mit gebügelten Khaki-Hosen, einem blütenweißen Hemd, eckiger Brille, braunen Schuhen, die Hände in den Taschen, so viel kleiner als in seiner Erinnerung, breitbeinig – da stellte Olu mit einer gewissen Ehrfurcht fest, dass sein Vater auch unter den Männern hier herausstach; die anderen hatten zwar die gleiche Hautfarbe, waren gleich groß und mehr oder weniger gleich gebaut, aber sein Vater war anders.
    Er blieb an der Tür zwischen der Gepäckausgabe und der Ausgangshalle stehen (dem alten Ausgang, vor dem Umbau), setzte den Rucksack anders auf, ging aber nicht nach draußen. Weil er seinen Vater nicht richtig wiedererkannte oder weil er überwältigt war von seinem Anblick. Als würde er den Mann zum ersten Mal in seinem Leben richtig sehen und plötzlich merken, dass er einmalig war, auch ohne den Kontrast, ohne den weißen Hintergrund, dass er
trotzdem
anders war, sogar vor dem braunen Hintergrund. Das ließ ihn innehalten und Kweku anstarren, einen Mann, allein für sich, klein und stark und getrennt von den anderen. Der eine, der anders war als die anderen. Die ganzen Eigenheiten, die er so gut an ihm kannte, wirkten irgendwie noch eigener: die Bügelfalten der Hosen, der enge Gürtel, die Manschetten einmal umgeklappt, das schütter werdende Haar säuberlich geschnitten, die gleiche Nickelbrille, die Brille der Wissenschafts-Immigranten, wie auch sein Professor in Yale eine hatte (als hätten alle nicht-weißen Studenten, die in den siebziger Jahren aus ihrer Heimat nach Amerika kamen, die gleichen Brillen bekommen). Kweku. Nicht Vater, Chirurg, Ghanaer, Held, Monster, einfach nur Kweku Sai, ein Mensch in der Masse, eine merkwürdige Erscheinung, ein Fremder in Accra genau wie in Boston. Allein. Kweku konnte ihn hinter der Tür nicht sehen und stand deshalb da wie ein Kind, dem man gesagt hat, es soll brav warten und nicht herumhampeln, die Hände in den Taschen, den Blick auf den

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