Diese Dinge geschehen nicht einfach so
sollte der Arzt sein, der Junge, der zweite Sohn. Das war der Traum, Sai und Söhne, ein Familienunternehmen. Aber leider habe ich sie gehasst.«
»Wen?«
»Diese Fächer – Mathe, Naturwissenschaften.« Wieder lacht er, fährt mit dem Stock die Linien seiner Skizze nach, erzählt dann murmelnd den Rest. Weniger an Sadie gerichtet als an sich selbst: »Ich weiß, dass es nicht so gemeint war, aber ich habe es gehasst, wie sie mich angeschaut haben, als wäre ich der Riss in der Kette aus Olu und ihm, als wäre ich ein Fremder, was ich für sie ja vielleicht war, vielleicht auch für mich selbst, keine Ahnung. Ich wüsste es gern. Wenn ich Olu jetzt sehe, dann frage ich mich: Wie wäre das gewesen, wenn er bei Dad im Auto gesessen hätte und nicht ich? Wäre dann alles anders gelaufen? Wenn der gute Sohn im Auto gesessen hätte, verstehst du?«
Sadie versteht nichts. »In welchem Auto? Wenn Olu in welchem Auto gesessen hätte?«
»Ach, ich rede nur so daher«, sagt Kehinde und zieht das Gesicht noch einmal nach.
»Nein, sag’s mir. In welchem Auto?« Sie gibt nicht nach.
Kehinde schwankt. »Ich …«
»Mir sagt keiner was«, brummelt sie. »Ist schon gut.«
Er spürt, wie das bleierne Schweigen sich über ihn senkt, wie sie ihn umschließt, die vertraute Schicht aus Schweigen, die ihn schützt, ihn von allem abschneidet – aber seine Schwester scheint ebenfalls da zu sein, neben ihm genauso abgeschnitten, ihr Atem und ihr Herz. Er hört sie flach atmen, das Geräusch kurz vor den Tränen. Er fühlt ihr Alleinsein, ein Hohlraum in seiner Kehle. Ein Raum, der sich geöffnet hat. Durch den, ungebeten, leise und unsicher, der Klang seiner Stimme dringt. Er erzählt ihr ohne Umschweife, wie er ihren Vater abgeholt hat, wie er in die Krankenhauslobby kam, die Wachleute sah und Dr. Yuki, wie Dad und er im Volvo nach Hause fuhren, in der Einfahrt hielten und im Auto sitzen blieben, wie er sein kleines Bild signierte mit einem Stift, den er immer noch hat. Er holt den Stift aus der Tasche und gibt ihn Sadie.
»Was steht da drauf?« Im Dunkeln kann sie es nicht sehen.
»Ich glaube, Mom hat es eingravieren lassen. Es ist Yoruba. Du kannst ihn behalten.«
»Ehrlich?«
»Ja.«
»Danke. Und danke, dass du mir das alles erzählt hast.« Sie fährt vorsichtig über den Stift. Und sagt: »Ich wäre froh gewesen. Dass du es warst und nicht jemand anderes. Ich wette, er war froh.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ich weiß es.«
»E se«,
sagt er, obwohl es ihm weh tut, das zu sagen. Die Musik der Sprache erinnert ihn an Nigeria. An seine Schwester. Er steht auf. »Wir sollten wieder reingehen.«
»Meinst du?«
»Die Moskitos.«
»Aber unsere
Familie
ist da drin«, sagt sie lachend.
»Ich weiß.« Er küsst ihren Kopf.
Jetzt kommen Fola und Benson aus dem Haus, hinter ihnen Amina mit Plastikdosen. »Das ist wirklich nicht nötig«, sagt Benson.
»Bitte. Nimm es mit. Es ist nur ein bisschen
egusi
und
joloff
für später.«
»Ich habe Bedienstete …«
»Aber dein Koch ist Ashanti. Die wissen nicht, wie man
egusi
macht. Jedenfalls nicht so wie ich.« Sie lachen beide und schauen nach unten, als Fola Schmetterlinge spürt (unten links, Verblüffung) und in den Garten späht. Dahinten beim Baum kann sie den Liegestuhl ausmachen, daneben eine Gestalt, großgewachsen. »K, bist du das?«
5
Taiwo kommt herein. Olu liegt da und liest, das andere Bett ist leer. »Macht es dir etwas aus, wenn wir tauschen?«
Olu blickt von seinem Buch auf, sieht, dass sie weint. »Bist du …?«, beginnt er, aber ihm ist klar, dass nicht. Er erhebt sich ein bisschen ungeschickt, weil er nicht weiß, was er mit seinem Körper anfangen soll. Sie umarmen? Er macht einen Schritt auf sie zu. Taiwo weicht zurück, eine spontane Reaktion, die ihn aber nicht kränkt.
»Die Zimmer. Können wir tauschen?«
Verunsichert durch ihre Tränen geht er ohne weitere Fragen aus dem Zimmer. Sie schließt die Tür, und er geht den Flur hinunter.
6
Das Zimmer ist größer, ein breites Bett, ein kleines Fenster, der Duft von Lings Lotion, leise Geräusche aus dem Garten. Er überlegt, ob er auch nach draußen gehen soll, hört Fola fragen: »Wo ist Olu?«, dann seinen Bruder, der sagt: »War schön, dich kennenzulernen.« Aber er geht nicht hinaus zu ihnen. Es hilft nichts, wenn er diesem Benson misstraut und sich wegduckt. Benson kommt garantiert wieder, schon morgen, so wie es klingt. Es wurde irgendwie darüber geredet, mit seinem Auto ins Dorf
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