Diese Dinge geschehen nicht einfach so
»Nur einer.« Der Ältere trat näher, mit seiner Waffe. »Leg das Gewehr weg«, sagte Femi. »Sonst machst du ihr noch Angst.« Der junge Mann legte die Waffe auf den Tisch. »Fass das Mädchen an.« Die Zigarette klebte an seinen Lippen, während er den Jungen wie eine Marionette ans untere Ende des Sofas schob. Dann machte Femi es sich in einem Sessel gegenüber bequem, als wollte er eine Live Show sehen, die Beine übereinander geschlagen, die Augen aufgerissen.
»Sa?«,
fragte der Wächter.
»Fass das Mädchen an. Schieb ihr Nachthemd hoch. Der Junge hier will nicht. Öffne den Gürtel.«
Der Wächter schaute erst Taiwo an, dann drehte er sich zu Kehinde um, der hinter ihm stand. Taiwo presste die Lider zusammen und weinte tonlos. Mit einem Blick auf seinen Arbeitgeber öffnete der Wärter seine Hose.
»Aufhören«, sagte Kehinde. Kaum hörbar. »Bitte aufhören.«
»Wenn du nicht willst, macht er’s«, erklärte Onkel Femi ruhig. An den Wächter gerichtet: »Nimm die Finger.«
»Ich mache es«, sagte Kehinde.
Onkel Femi klatschte in die Hände. »Hab ich mir’s doch gedacht.« Mit einem leisen Lachen gab er dem Wächter ein Zeichen, und dieser ging wieder zurück zur Tür. Das Gewehr lag noch auf dem Tisch. Unbeachtet, als wäre es eine Kaffeetasse. Typisch für die Absurdität der Welt, in der sie sich befanden. Kehinde machte einen Schritt vorwärts, schaute auf seine Schwester hinunter, seine Knie dicht bei ihren Füßen am Ende des Sofas. Tränen in ihren Augen und in seinen Augen, den gleichen Augen. Und das dritte Augenpaar, in dem Porträt, verfolgte die Szene von der Wand aus. Taiwo schaute ihren Bruder an. Sie dachte, er würde bluffen, vielleicht hatte er ja einen schlauen Fluchtplan? Verzweifelt versuchte sie, seinen Gesichtsausdruck zu entschlüsseln. Aber sie sah nichts. Seine Augen waren leer und dunkel. Er sah wütend aus. Sie hatte ihren Bruder noch nie wütend gesehen. Er wischte sich die Augen schnell mit dem Handrücken.
»Fass sie an – so wie ihr das unten in eurem Zimmer immer macht.« Femi wirkte aufgeräumt. »Tut so, als wäre ich nicht da.« Als Kehinde zögerte, fügte er hinzu: »Macht euch keine Sorgen. Ich werde eurer Mutter nicht verraten, was eure Tante mir gesagt hat.«
Wie es passierte:
Wie ihr Onkel ihrem Bruder Anweisungen gab, von seinem Sessel aus, ein Regisseur, die Wächter schauten zu. Wie ihr Bruder, ohne ein Wort und mit ausdruckslosen Augen, ihr den Slip auszog und säuberlich auf den Fußboden legte. Und mit dem Finger in sie eindrang. Das verwirrende Gefühl, weniger schmerzlich als unangenehm. Etwas öffnete sich, riss. »Fester! Fester! Fester!«, sagte Femi. »Schneller! Schneller!« Mit höhnischem Entzücken in der Stimme. Kehindes Finger, mit Kraft.
Da merkte sie das erste Mal, dass sie ihren Körper verlassen konnte. Sie konnte ihn einfach da liegen lassen, während ihre Gedanken ganz woanders waren. Mühelos. Es geschah einfach: Sie lag da in ihrem Nachthemd auf einem Sofa in Lagos und merkte, wie sie sich entfernte. Ein müder Partygast, der sich verabschiedet. Sie schwebte über ihnen und beobachtete alles, ganz ruhig, sie sah Kehinde in seinem T-Shirt und den Mickey-Shorts, sein Finger in seiner Schwester, Onkel Femi in seinem Stuhl, die beiden Jungen an der Tür, ihre Augen groß vor Scham und Lust, das Porträt über dem Kamin, ihr Slip auf dem Fußboden – dann schwebte sie anderswohin: zu ihrem Wohnzimmer in Brookline, zum Klavier, und Shoshanna, die schimpfte: »Schneller! Schneller! Schneller!«, während sie Rachmaninoff zu spielen versuchte – und weiter: in das Klassenzimmer, zu dem nervösen Lachen der Lehrerin, während sie die Os schraffierte – in ihr Zimmer: zu dem Fenster, von dem aus sie Kehinde in der Einfahrt sehen konnte, und ihr Vater machte ein so schuldbewusstes Gesicht, und das kleine Licht im Auto brannte. Es erschien ihr fast unmöglich, dass sie, in diesem Körper, je eine so große Entfernung zurückgelegt hatte, von Brookline nach Lagos, von ihrem Klavier und dem Klassenzimmer und ihrem Zimmer und der Geborgenheit
hierher
, in diesen Albtraum: zu weit. Sie schwebte wieder über ihnen und fragte sich: Wer ist das, da, in dem Körper? Sie war’s nicht. Konnte es gar nicht sein. Es war einfach nur ein Körper. Ein Körper, den sie dort hatte liegen lassen, so wie man ein Handtuch irgendwo liegen ließ.
Und in den sie jetzt zurückkehrte.
Kehinde war fertig. Zog seinen Finger aus ihr heraus. Sie öffnete
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