Diese Dinge geschehen nicht einfach so
euch dort bessergeht. Ich habe gedacht, dass euer Onkel …«, sie stöhnt kurz und fährt dann fort, »dass euer Onkel euch Dinge bietet, die ich mir nicht leisten kann. Ich wollte, dass ihr – ich weiß auch nicht – dass ihr
mehr
habt …«
»Mehr als
was
?«
»Mehr als eine alleinerziehende Mutter. Als eine Mutter wie mich. Ich habe nicht gewusst, was ich mache. Ich hatte selbst nie eine Mutter. Ich habe mir immer alles irgendwie zusammengesucht. Ich hatte Angst. Ich war allein. Ich war ein Feigling. Ich hatte Angst, euch zu enttäuschen, euch Dinge vorzuenthalten, die ihr verdient habt. Du warst so begabt, so intelligent, sogar noch klüger als Olu. Alle deine Lehrer haben gesagt: ›Sie ist etwas ganz Besonderes‹, haben sie gesagt. ›Sorgen Sie dafür, dass sie gefördert wird, dass sie genug Anregungen bekommt, dass sie unterstützt wird.‹ Ich hatte Angst, ich könnte schuld sein, dass du nicht die erstklassigen Leistungen bringst, zu denen du fähig bist. Ich hatte Angst, dass ich versage und dich nicht genug fördere. Also habe ich euch zu … zu ihm geschickt … und er hat dich verletzt. Und Kehinde. Ich habe so oder so versagt.« Fola verstummt beschämt. Eigentlich wollte sie das alles gar nicht sagen. Taiwo schweigt, ihre Arme um Fola geschlungen, ihr Herz zittert spürbar an Folas Brust. Fola lehnt sich zurück, gerade weit genug, um Taiwo ansehen zu können und um das Gesicht des Mädchens zwischen beide Hände zu nehmen. »Es tut mir so leid.«
Ihre Tochter blickt zu ihr auf, blinzelnd, mit zusammengekniffenen roten Augen, die vom Salz ihrer Tränen und vom Schweiß brennen.
Sie sieht aus wie ein kleines Kind
, denkt Fola. Mein
Kind
. Mein Baby, meine Tochter, mein Kind.
Nicht Somayina
. Die Augen erinnern sie nicht an ihre Mutter. Vielleicht zum ersten Mal seit Taiwos Geburt. Die klaren Bernsteinaugen sehen für Fola aus wie Taiwos Augen. Die Augen eines Kindes, nicht eines Geistes, sondern eines Mädchens. Taiwo sagt nichts, sie schaut nur ihre Mutter an, die den Blick erwidert, überwältigt von ihrer Sehnsucht. Sie will heilen und trösten, sie will Antworten geben. Sie will das, was ihren Zwillingen angetan wurde, wiedergutmachen. Sie will Kehinde holen und auch ihn hier umarmen. Sie will Femi finden und ihn töten. Mit ihren eigenen Händen. Einfach so. Ihn vernichten. Sie will aufhören zu weinen. Sie will machen, dass Taiwo aufhört zu weinen. Aber sie kann es nicht. Das Einzige, was sie kann, ist: hier mit Taiwo stehen, allein an diesem Strand, in der unerträglichen Hitze, und sie weiß, dass jemand ihrem Kind Schmerzen zugefügt hat, die nicht wiedergutgemacht werden können, sie kann nichts rückgängig machen. Sie kann sie nur festhalten.
Sie küsst Taiwo auf die Stirn, immer noch ihr Gesicht zwischen den Händen, und will sie wieder in die Arme schließen, als Taiwo sagt: »Bitte nicht«, weil sie denkt, dass Fola sie geküsst hat, um die Szene zu beenden, und dass sie sich jetzt von ihr lösen will.
»Bitte, geh nicht weg«, flüstert Taiwo und erschreckt ihre Mutter, indem sie noch heftiger ihre Taille umklammert. »Lass mich noch nicht los. Bitte, lass mich nicht los.«
»Ich lass dich nicht los«, flüstert Fola, und sie lässt Taiwo nicht los.
7
So allmählich ärgert sich Olu.
Wo stecken sie nur alle
? Seine Mutter und seine Schwester sind einfach verschwunden und haben es dem Rest der Familie überlassen, das angebotene Essen entgegenzunehmen, ein Bohnen-und-Reis-Gericht, auf Blechtellern serviert. Sie haben höflich gegessen, gekaut, genickt, gelächelt, haben alles mit warmer Fanta hinuntergespült und ihre Teller zurückgegeben. Sadie ist dann mit ihrer neuentdeckten Tanzlehrerin weggegangen, um hinter irgendeiner Lehmhütte noch mehr Schritte zu üben, während Benson einen Anruf auf seinem Handy bekommen hat und auf dem Platz hin und her wandert, um besseren Empfang zu bekommen. »Hallo? Hallo?« Kehinde hat sich in Luft aufgelöst, wie das so seine Art ist. Das heißt, Olu und Ling sind allein mit Shormeh und Naa, den beiden schwarz gekleideten Schwestern, die sein Vater nie erwähnt hat, beide älter als er, so wie sie aussehen, sechzig oder noch mehr. Naa, die etwas Freundlichere, eine Doppelgängerin von Sadie, fragt, ob sie das alte Haus sehen wollen? »Oh, ist schon okay«, antwortet Olu, wohingegen Ling begeistert ruft: »Ja, gern!«, und schon werden sie zu der Hütte im Hintergrund geführt.
Das Dach ist ihm gleich aufgefallen, als sie das
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