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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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aber Taiwo wird fragen:
Wo waren seine Pantoffeln?
Wenn sie an ihren Vater denkt, wenn sie zulässt, dass der Gedanke sich bildet, oder wenn er sich verkleidet einschleicht, durch einen Riss in der Mauer, die sie und Kehinde in jenen einsamen ersten Nächten in Nigeria errichtet haben.
     
    Am Anfang war es ein Spiel, wie alles dort ein Spiel wurde zwischen den beiden, um irgendwie bei Verstand zu bleiben. Nie durften sie »Vater« oder »Dad« sagen, sie mussten zahlen, wenn es ihnen herausrutschte, eine Strafe, die der andere Zwilling bestimmte (meistens: in die Küche schleichen und Milchkekse klauen, Dreierpackungen, in Plastik gepackt, ideal, um sie für später zu bunkern).
    So legten sie den Grundstein.
    Als Nächstes schrieben sie die Geschichten neu.
    Es war ein Spiel, das sie hauptsächlich abends spielten, in dem stickigen zweiten Zimmer mit dem Deckenventilator und zwei knarzenden Betten – der einzige Raum im Haus ohne funktionierende Klimaanlage. Taiwo fing an, erzählte eine Geschichte aus Boston, zum Beispiel, als er sie alle mitten in der Nacht aufweckte und sagte, sie sollten ihre Schneeanzüge anziehen, und wie er sie dann in den Volvo packte und mit ihnen zum Lars Andersen Park fuhr.
    Das war um zwei Uhr morgens, der Schnee war gerade gefallen, alles weiß, und irgendwo bellte ein Hund. Dad holte fünf Plastikschlitten aus dem Kofferraum des Autos, während sie mit großen Augen glotzten und Mom an den Zähnen saugte. »Kweku, nein«, zischte sie leise, weil sie jetzt erst kapierte, was los war, und sie schlug die Finger aneinander, in ihren wollenden Fäustlingen. »Wir werden verhaftet.«
    Sadie war noch nicht auf der Welt.
    Der Schnee frisch und perfekt.
    Der Park dunkel und leer.
    Die Sterne zwinkerten zustimmend.
    Sie wurden nicht verhaftet. Sie fuhren Schlitten bis in die Morgendämmerung, auch Mom, flüsternd, lachend, außer sich vor Freude, lustig, übermütig, mit aschfahler Haut, ein ungewohnter Anblick: eine afrikanische Familie, die allein im Schnee spielt.
    Aber so wie sie die Geschichte jetzt erzählte, war der Vater nicht mehr dabei. Es war Moms Plan, die nächtliche Schlittenfahrt, es waren vier Schlitten, nicht fünf. Dann erzählte Kehinde eine Geschichte. Und so weiter und so fort, Geschichten vom Schnee, bis sie beide einschliefen. Bis der Mann gelöscht war – aus ihren Geschichten und dadurch aus ihrer Kindheit (die nur in Geschichten existierte, das wusste Taiwo, weiß sie immer noch). Nicht tot. Nie tot. Sie wünschten sich nie, ihr Vater wäre tot, sie taten nie so, als wäre er tot. Nur getilgt, abgetrennt. Existenz verweigert, gegenwärtig nur in Abwesenheit und Schweigen. Reduziert auf eine Idee. Nicht mehr als ein Gedanke. Und ein Gedanke, der an und für sich eine Zusammenstellung von Wörtern war, das heißt, von Wörtern, die sie nicht verwendeten – also, ein Gedanke, den sie nicht dachten.
     
    Die Zeit verging, und diese Mauer wurde höher.
    Die Zeit verging, und diese Mauer wurde schwach.
    Bis eines Tages, ohne jede Vorwarnung, der Gedanke kommt:
Wo waren seine Pantoffeln?
Und eine Woche später schon wieder. Der Riss in der Mauer. Es war der Punkt, den sie aus ihren Geschichten zu löschen vergaßen, der krankheitsübertragende Moskito im Evakuierungsflieger. Kein Moment, auch keine Erinnerung, kein erinnertes Detail in einer Anekdote, sondern ein Detail in
jeder
Anekdote, allgegenwärtig, das Fundament. Also entging es ihnen, sie löschten es nicht, ließen es dort, wo es war und wo es blieb, präsent, verborgen, fachte es die Vergangenheit an.
    Die Pantoffeln.
    Abgetragene Latschen, braun, verschlissen bis zu den Sohlen. Wie Ledertiere mit Trennungsangst, treu, seine Hunde. Und seine Religion, das, woran er glaubte, der Urgrund seiner moralischen Grundsätze: ein Gemisch aus kosmopolitischem Asketentum, Ritual, klare Linien.
Die Pantoffeln
. So einfach, so leise auf Holz, bringen Sauberkeit, Frieden und Ruhe zum Volk Gottes, überall auf der Welt, zu jeder Klasse und jeder Kultur, erschwinglich für alle, ein einzigartiger Schutz gegen die Gefahren im Haus, zum Beispiel Splitter und Bakterien und Schäden im Holz, das heißt, von Hand abgeschliffene Dielen aus Eichenholz, fünfzig Dollar pro Quadratfuß. Wenn er andere Leute besuchte, registrierte er zuerst und vor allem, ob die Familie Pantoffeln »praktizierte«, alle übrigen Urteile machte er davon abhängig. Und wenn irgendjemand zu Besuch kam – Gott bewahre, Taiwos »Freundinnen«, diese

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