Diese Dinge geschehen nicht einfach so
geantwortet hatte, so wie sie es bei einem Rechtschreibwettbewerb getan hätte, korrekt geantwortet auf die Frage: Wer war ihr Vater?
Jemand, der seine eigenen Füße liebte und der seine eigenen Kinder liebte.
Sie verstand das griechische
phil
falsch, die Konnotation von »Liebe«. Und ihren Vater verstand sie ebenfalls falsch, denn er würde seine Kinder im Stich lassen, und er hasste seine Füße, wie sie in jener Nacht herausfand.
Oder besser gesagt am Morgen.
Vier Uhr morgens, das Haus still, reglos. Taiwo starrte an die Decke, die Hände auf ihren Rippen. Sie litt an »mittlerer Schlaflosigkeit«, noch nicht diagnostiziert. Stand auf und ging in die Küche.
Im Allgemeinen ging sie, wenn sie nicht schlafen konnte, leise zu Kehinde hinüber, durch die kleine Falltür hinten in ihrem begehbaren Wandschrank. Dort stand sie schweigend am Fuß seines Bettes, schaute auf sein Gesicht hinunter, aquarelliert vom Mondlicht, und staunte darüber, wie
ernst
er aussah, wenn er schlief, er konnte nur ernst aussehen, nur die Stirn runzeln, wenn er tief schlief. Wenn er wach war, sah er aus wie Kehinde. Wie sie, aber mit einem Geheimnis, und die goldbraunen Augen verbargen ein Lächeln von seinen Lippen. Sie lächelte dann über sein ernstes Gesicht, bis er, ohne aufzuwachen, ihr Lächeln erwiderte, mit geschlossenen Augen, ein Lächeln im Schlaf. Nur dieses eine. Ein kleines Lächeln, fünfzehn Sekunden, nicht länger, die Augenlider immer noch unruhig von seinen Technicolor-Träumen. Dann warf sie ihm eine Kusshand zu und kehrte durch den Schrank in ihr Bett zurück, wo sie dann immer sofort einschlief.
Stattdessen ging sie nun über die Hintertreppe hinunter in die Küche, einer von mehreren geheimen Gängen, die dieses Haus zusammenbanden. Es war das Haus im Kolonialstil, das sie hasste, in Brookline, das der Mann stolz nach Sadies Geburt gekauft hatte (und obwohl Mom eigentlich ein Townhouse wollte, im South End, vor der Gentrifizierung; besseres Preis-Leistungs-Verhältnis, hatte sie gesagt, und sie hatte recht gehabt). Es war sehr schön. Roter Backstein mit schwarzen Fensterläden, weißen Fensterrahmen, Giebeldach. Und hinten ein Garten. Aber wenn Taiwo es mit den gigantischen Tudor-Villen der Nachbarn verglich, fand sie es mickrig. Anämisch, irgendwie. (Später lachte sie über sich, am ersten Abend in Lagos, als sie mit dem Auto an Häusern vorbeikamen, die Brookline runtergekommen aussehen ließen.)
Sie ging in die Küche und öffnete einen Schrank.
Dann noch einen.
Dann öffnete sie den ersten noch einmal.
Olu hatte gerade an der Milton Academy angefangen als Vorbereitung für das College und bestand darauf, das zu essen, was
Prep School-
Schüler aßen. Die Schränke waren deshalb gefüllt mit Sachen, die mysteriöse Namen hatten, zum Beispiel mit Mi-Del Organic Lemon Snaps. Taiwo machte alle Schränke wieder zu. Öffnete den Kühlschrank.
Dort stand noch eine Capri Sonne hinter dem Apple & Eve Apfelsaft. Taiwo steckte den Strohhalm hinein, trank den Saft in einem Rutsch. Dann warf sie den Behälter weg. Sie schaute aus dem Fenster und schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien.
Da stand, unheimlich im Mondlicht, die Statue der Mutter mit den handgemeißelten Steinzwillingen und schaute sie an. Die Statue wirkte wie ein Kind zwischen den hohen Silhouetten der Tannenbäume, ein Alien-Kind, gut einen Meter groß, blassgrau schimmernd. Taiwo hasste dieses Ding. Alle hassten dieses Ding. Selbst Mom hasste es insgeheim. An Weihnachten hatte sie es ausgepackt und gesagt: »Wie wunderschön, Kweku! Vielen Dank!«, und es nach dem Essen draußen in den Schnee gestellt.
Taiwo kicherte leise, während ihr Herz laut hämmerte. Sie beschloss, alle Schlösser an den Türen zu überprüfen. Für den Fall, dass ein kleines Alien-Kind durch Brookline wanderte, auf der Suche nach Lemon Snaps. Die Hintertür war verriegelt. Auf Zehenspitzen tippelte sie durchs Esszimmer, in dem nie jemand aß, zu dem kalten, leeren Vorraum, um die Haustür zu kontrollieren. Fast hätte sie die zusammengesunkene Gestalt im Wohnzimmer nicht bemerkt, weil dort nie jemand saß (höchstens wichtige Gäste in Pantoffeln), links vom Vorraum, hinter dem grandiosen maurischen Türbogen. Das Zimmer mit den zwei Sofa-Garnituren und dem roten turkmenischen Teppich.
Fast.
Sie schlich durch die Dunkelheit zum Türbogen, drehte den Kopf einen Zentimeter nach links, und da war er.
Auf dem Sofa, zusammengesunken.
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