Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Die Füße auf einer Fußbank, der Kopf nach vorn gekippt, bleiern, seine Lippen schlaff herunterhängend. Er hatte immer noch den blauen OP -Kittel an, mit ein paar roten Spritzern, als hätte er die Operation abgeschlossen und wäre dann direkt ins Auto gestiegen. Sein weißer Mantel lag auf dem Fußboden, offenbar hatte er ihn einfach fallen lassen. Seine Pantoffeln waren von den Füßen gerutscht und auf dem Teppich gelandet. Hell schien das Mondlicht durch das Fenster hinter ihm, auf die Schnapsflasche, die er noch umklammerte.
Taiwo blieb wie erstarrt im Vorraum stehen. Ihr Herz fing wieder an zu hämmern. Sie schaute zur Treppe und überlegte, ob sie losrennen sollte. Sie wusste, dass sie Ärger kriegen würde, wenn er aufwachte und sie entdeckte. Nicht, weil sie hier herumschlich, statt zu schlafen, sondern weil sie ihn in diesem Zustand gesehen hatte. Auf dem Sofa kollabiert, der Mund offen hängend, sein Mantel auf dem Fußboden, sein Kopf auf die Brust gesunken. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen, so –
schlaff
. Ohne Spannung. Sonst war er immer rigide, aufrecht, absolut straff. Jetzt sah er aus wie eine Marionette, die vom Puppenspieler liegen gelassen wurde, ein Bündel aus Holzgliedmaßen und Fäden. Sie wusste, er wäre sehr wütend, wenn er herausfände, dass er so gesehen worden war. Sie wusste, sie sollte die Treppe hinaufschleichen – schnell hinaufrennen.
Konnte es aber nicht. Oder wollte es nicht. Sie wollte ihn stören. Sie wollte ihn wiederbeleben. Machen, dass er aufwachte, sich richtig hinsetzte. Also ging sie zu ihm und stellte sich vor ihn hin, als wäre er Kehinde, trat an den Rand der Fußbank, vor seine Füße, doch dann zuckte sie zurück und schlug sich wieder die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien – vor Schreck angesichts der unzähligen Schrunden an seinen Fußsohlen.
Wieso sie diese Flecken noch nie gesehen hatte, konnte sie sich nicht erklären, kann sie sich immer noch nicht erklären. Wie war es möglich, dass sie immer nur die eine Seite seiner Füße gesehen hatte, die glatte. Die Sohlen waren völlig anders. Wund, schwielig, rau, an manchen Stellen war die Haut schwarz, an den Zehen geschwollen. Als wäre er buchstäblich barfuß über brennend heißen Sand gegangen (tatsächlich war er in seiner Jugend die meiste Zeit ohne Schuhe herumgelaufen). Taiwo presste die Lippen aufeinander, um ihren Ekel zu unterdrücken. Aber was sie dann fühlte, hatte keine Form, machte kein Geräusch:
eine seltsame Leere, eine Schwerelosigkeit, als würde sie schweben, als hätte sie einen Moment lang aufgehört zu existieren. Es war eine neue, seltsame Traurigkeit, halb Schmerz, halb Mitleid, eine Helium-Traurigkeit, luftlos, unerträglich. In der Zukunft, als Erwachsene, wenn sie die gleiche Luftlosigkeit spürt, wenn sie spürt, wie ihr ganzes Sein aus ihr herausströmt wie Atemluft, dann wird sie sich danach sehnen, zu berühren und berührt zu werden, Kontakt zu schaffen (was sie dann auch tut, mit allen möglichen Konsequenzen). Diese Sehnsucht war, wie die meisten Dinge, unschuldig, als sie entstand, als sie sich in ihren Händen und in ihrem flatternden Herzen einnistet: der Impuls, seine Füße zu berühren, sie zu küssen, um alles gutzumachen und ihren Vater wiederherzustellen. Aber sie wusste nicht, wie. Sie hatte keine Antwort. Sie kannte diesen Vater nicht. Sie kniete nieder. Begann zu weinen.
Sie hatte Angst, aus Gründen, die sie nicht erklären konnte, es war ein Gefühl jenseits der Vernunft, aber trotzdem glasklar: dass gleich etwas fürchterlich schiefgehen würde, wenn es nicht schon schiefgegangen war. Dass sich etwas verändert hatte. Das lag hauptsächlich an ihrer unerklärlich scharfen Intuition (verbunden mit mittlerer Schlaflosigkeit, damals, mit zwölf, noch nicht diagnostiziert). Aber die Intuition kam ohne Gedanken, ein Gefühl komplett ohne Sprache. Eine Öffnung.
Etwas hatte sich irgendwo geöffnet.
Die Tatsache, dass ihr Vater hier zusammengesunken im Mondlicht saß, zeigte, dass etwas möglich war, was sie nicht geahnt hatte, dass er verletzlich war. Und wenn
er
verletzlich war – ihr fester, robuster Vater –, dann galt das auch für sie, für sie alle. Und was noch schlimmer war: Sie wussten es vielleicht gar nicht. Er hatte die Sohlen seiner Füße vor ihr verborgen, ihr ganzes Leben, zwölf Jahre lang. Womöglich verbarg er ja noch etwas ganz anderes (jeder konnte etwas verbergen). Und dass er versucht hatte, es zu
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