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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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wuselnden Horden schriller Klassenkameradinnen, die in ihren Zwillingsbruder verliebt waren –, dann stand er wachsam an der Haustür. »Kommt doch rein!«, rief er und zeigte mit großer Geste auf den Korb, den er neben die Tür gestellt hatte.
    Wie ein Behälter mit Schlittschuhen, die man ausleihen kann.
    Jede Art von Pantoffeln. Dicke Pantoffeln aus gesteppter Baumwolle aus edlen Hotels, mit gepolsterten Einlagen und beigen Gummisohlen, glänzende Polyester-Pantoffeln, in Chinatown en gros gekauft, neonblau und grelles Pink, mit gestickten Drachen über den Zehen, steife eisgraue, wie Feuerstein aussehende Flipflops vom Flughafen in Ghana (wo auch die verrückten MC Hammer-Hosen herkamen, mit
gye nyame-
Druck). Kehindes verlegene Fans entschieden sich fast immer für die Drachen, schauten einander aufmunternd an, während sie ihre Keds auszogen, und schworen sich schweigend Solidarität, während sie tapfer in diese seltsame neue Welt marschierten, in der es nach Ingwer und Öl roch.
    »Oh, Gott, Taiwo, dein Dad ist ja so
süß
!«, kicherte dann eins der Mädchen und erreichte bei dem Wort
süß
ihr alleroberstes Tonregister.
    »Oh, Gott, Taylor, du bist ja so
affektiert
«, äffte sie die Freundin nach, und dann erschien Kehinde hinter ihr. Tauchte auf aus dem Nichts, wie nur er das konnte, lautlos, ohne Geräusch, so betrat er das Foyer in marokkanischen
Babouches
.
    »Hallo«, begrüßte er die Freundinnen. Klang schüchtern, sprach leise. Nicht wirklich schüchtern, das wusste Taiwo. Nicht wirklich interessiert.
    Hi
war bei ihnen ein dreisilbiges Wort.
Hi-i-i.
Sobald sie Kehinde sahen, senkten sie den Blick und erröteten. Taiwo beobachtete das in Westin-Hotel-Pantoffeln. Vier blonde Pferdeschwänze verneigten sich ehrfürchtig vor den
Babouches
ihres Bruders. Eifersucht und Verwirrung verhedderten sich zu einem Knoten. Wenn die Mädchen aufblickten, war Kehinde weg.
    Ninja-Pantoffeln.
     
    Eine Religion oder ein Fetisch, eine Art Podophilie – so kam es jedenfalls Taiwo auf einmal vor, als sie in der achten Klasse im Kurs für alte Sprachen dieses Wort entdeckte. Noch besser:
Auto-Podophilie
. Sie schrieb es säuberlich in ihr Heft, schraffierte die O’s mit dem Bleistift, während jemand fragte: »Was ist denn dann ein Pädophiler?«
    Das nervöse Lachen des Lehrers klang weit weg in Taiwos Kopf, das Schraffieren der O’s erschien ihr wichtiger. Sie dachte an die Füße ihres Vaters und an die übertriebene Aufmerksamkeit, die er ihnen zuteil werden ließ. Die Salzabriebe und das Pfefferminzöl und das Vitamin E vor dem Schlafengehen.
Liebe zu Füßen
. Aber später fällt es ihr wieder ein, dieses Lachen und die dazugehörige Nervosität, das angespannte Gesicht des Lehrers, die Luft im Klassenzimmer, das Gekicher. Jede Bewegung, Klang und Bild, jeder Bruchteil dieses Moments, glasklar. Exakt die Art von Moment, bei dem man nie weiß, was er eigentlich ist.
    Ein Ende.
    Ein Warnschuss.
    Eine Grenzmarkierung. Zwischen »so wie es war« und »als alles anders wurde«. Ein Augenblick, in dem man nichts bemerkt, an den man sich aber bis in jede Einzelheit
erinnert
. Das ist das Entscheidende. Der Unterschied zwischen Taiwos Leben mit zwölf, bevor alles anders wurde, und das Leben, das dann kam, ist folgender: Das Nicht-Merken. Nicht merken müssen, nicht wissen, wie man merkt. Dass sie nie aufpasste. Nicht eigentlich unschuldig – sie hat sich nie als unschuldig betrachtet, nicht so unschuldig, wie Kehinde das war: frei von Misstrauen, von Urteilen – sondern
insular
, zufrieden mit der Welt in ihrem Kopf, ein ganzes Leben, das aus ihren Träumen entsteht, aus ihren eigenen Gedanken.
    Sie dachte gerade da an die Fußliebe ihres Vaters, an seine Liebe zu den
eigenen
Füßen, als jemand sie nach Pädophilen fragte, und, halb darauf hörend, schrieb sie das Wort hin. Ein Mensch, der Kinder liebt. Der seine eigenen Kinder liebt.
    Pädophil.
    Auto-pädophil.
    Auto-podophil.
    Und dann. Das vertraute Kribbeln im Bauch, die Schmetterlinge, die sie spürte, wenn sie wusste, dass sie recht hatte. Aufregung und Trost und Befriedigung, vermischt mit einem Hauch von etwas, das schwerer war, finsterer: Erleichterung. Die Erleichterung, zu wissen, dass sie es richtig verstanden hatte, verbunden mit der Angst, was passieren würde, wenn sie sich eines Tages irrte. Das ist es, woran sie sich seitdem am deutlichsten erinnert, und worüber sie am grausamsten lacht: ihre Selbstzufriedenheit an dem Tag. Dass sie korrekt

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