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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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sah – als sie diesen schrecklichen Streit hatten, darüber, ob er das Stipendium annehmen soll oder bleiben, und als sie sagte, er werde
hier
gebraucht, nicht in »Pennsy-wasweißich«. Er hätte nicht sagen sollen, was er sagte.
    Dass sie »eifersüchtig« sei, neidisch.
    Selbstverständlich war sie eifersüchtig. Sie war achtunddreißig. Sie war nie aus Ghana herausgekommen. Ihre jüngste Tochter war tot. Ihr genialer Ehemann war mit dem Mondlicht in den Fluten verschwunden (oder hatte sie im Stich gelassen, höchstwahrscheinlich aus Scham, weil er ihr nicht gegenübertreten konnte). Und jetzt wollte ihr Sohn – ihr genialer Sohn, sechzehn, ohne Schuhe –, mit amerikanischen Missionaren zu der Alma Mater des Präsidenten verschwinden (Motto: »Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.« In der Tat. Und wenn der Sohn ein Stipendium bekommt?) In ihrem Mutterherzen wusste sie es.
    Dass er
nicht
»gehen und wiederkommen« würde, dass es nichts gab, wohin er zurückkehren konnte, dass er lernen würde – wie sie es sich gewünscht hatte, selbst ein begabtes Kind, mit sieben aus der Schule genommen, um Feuerholz und Wasser zu holen – und dass er dann fortgehen würde. Wie sie es sich gewünscht hatte.
    Es musste nicht ausgesprochen werden.
     
    Diese Gedanken kamen später. (Und viele Jahre lang – immer, wenn er versuchte, den feuchten Geruch des neuen Todes loszuwerden, ihn nicht mehr zu riechen.) Was er dachte, während er dasaß, war Folgendes: Wie anders sie ist, diese Ruhe. So still war es nie in dieser Hütte gewesen, als er aufwuchs. Und dass es ihm damals gut gefallen hätte, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, einfach nur dazu
sitzen
, so wie jetzt, allein und stumm. Und dass sie das bestimmt genauso empfunden hatte. Deshalb hatte sie alle immer gezwungen, so früh aufzustehen und die Hütte zu verlassen, alle miteinander, fünf Uhr morgens,
raus!
Nicht etwa wegen »Morgenstund …« oder »Wer rastet …« oder was die Missionare damals den ghanaischen Müttern sonst noch als Leitsätze für ihren Nachwuchs eintrichterten. Sie tat es, damit sie einen Moment lang dort auf dem Rücken liegen konnte, in Ruhe und allein, auf dem Rücken, die Arme seitlich. Nur das Schilf betrachten, das hoch über ihr zum Mittelpunkt strebte. Eine kluge Bauweise. Wenn man auf dem Rücken lag, wirkte der Raum riesig. Ein kluger Liebhaber, der hoffte und betete, dass er eines Tages die Witwe zu seiner Frau machen würde – die mit dem kleinen schwarzen Transistorradio, das sie überallhin mitnahm, wie ein Haustier. Er hatte seine Lehmhütte so entworfen, dass ein Mädchen in seinem Bett nach oben blicken konnte und Ferne, Weite, Höhe spürte. Sie schickte die Kinder weg, damit sie das konnte: die Ferne spüren. Einfach nur daliegen. Fünf Minuten, zehn, maximal. Bald würden sie wieder zurück sein vom Brunnen, von der Morgenwäsche, sechs Kinder (später fünf), zwei Jungen, vier dünne Mädchen. Bald würde die Hütte erfüllt sein von ihren Bewegungen, dann so voller Feuchtigkeit, dass sie alle nach draußen gingen.
    Jetzt, um fünf Uhr morgens, konnte sie so liegen, reglos, in der Stille, während die Wellen in der Nähe ein Geräusch machten, das eigentlich noch gar kein Geräusch war. Vielleicht bewunderte sie das Genie ihres durchgebrannten Ehemanns? Einen Augenblick lang versöhnt mit dem Schicksal, mit den Karten, die ihr zugeteilt worden waren? Eine Frau, geboren 1941 an der Goldküste, als die ganze Welt Krieg führte. Aber nicht hier. Hier am Rand der Welt, an den ausgefransten Rändern. Hier, wo die Zeit stillstand, stampfte sie Süßkartoffeln zu Brei und holte Feuerholz und Wasser. Und blickte sehnsüchtig den Booten nach, die vom Strand abstießen. Der größte Wunsch: weg, nur weg.
     
    Schließlich, Fola, von draußen vor der Hütte.
    »Liebling.« Sehr sanft. »Bist du da drin?«
    Er war nicht da drin. Er war nirgends, er war verschollen, er war außer sich. »Ich bin hier.«
    »Und das Baby …?«
    »Das Baby schläft.«
    Aber er wusste, was sie meinte, dass es irgendwie nicht richtig war, ein neues Leben so lang in der Gegenwart des Todes zu lassen. Er nahm das Baby und reichte es seiner Mutter, die sich zu ihm hereinbeugte, den Kopf zur Seite geneigt.
    »Nur noch kurz.« Als wäre er im Bad.
    Er blieb dort bis Mitternacht, die Tränen unreif.

Elf
    Seine zweite Frau , Ama, schläft in diesem Schlafzimmer, so wie er sie am meisten liebt: träumend, eine Brücke aus

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