Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Offenheit. So weit er sehen konnte. Eine fröhliche Offenheit. Unschuld. Ein unschuldiger Strand auf dem Weg nach Kokrobité, sieben Uhr morgens, November 1975 . Ein kleines Land, das fröhlich, ohne es zu merken, einer Revolution entgegenschlingerte. Ein kleines Taxi, das, die Revolution ignorierend, dem Schmerz entgegenschlingerte.
Und dann sie.
Keine Brücke, deren Glück der Eckstein wäre.
Keine Jubelgesänge, kein Getrommel, keine Ziegen und kein Fisch.
Fola wartete mit ihren Schwestern Shormeh und Naa, deren Augen erfüllt waren von altem Hass und neuem Schmerz. Eine aufgeregte Menschenmenge versammelte sich, als sie aus dem Taxi stiegen, und nun standen die Leute herum und schauten zu, wie er die Hütte betrat. Niemand brauchte Details (unwiderstehlich, fesselnd). Sein Kameramann war mit dabei und folgte ihm nicht.
Er duckte sich, als er eintrat, vergaß fast, wie groß er war. Oder wie groß sie war, diese kleine Hütte, das Zuhause seiner Kindheit. Er trug seinen Sohn, halb schlafend, sechs Monate alt damals, brachte den in Amerika geborenen Jungen zu ihr.
Nur
ein
Bett.
Sie lag auf dem Rücken, die Arme seitlich, die Matten auf dem Fußboden, dieselben Matten, die er noch kannte. Dunkel, und so kühl mit der Kuppel, dem kleinen Fenster. Es war eine gut durchgeplante Hütte, auch wenn sie noch so klein war. Gerundete Lehmwände, massives Strohdach, das an der höchsten Stelle fünf Meter hoch war, eine dreieckige Konstruktion. Sein Vater hatte diese Hütte gebaut. Ein Künstler, hatten sie ihm gesagt, ein Fante, ein Wanderer, ein »Genie«, wie er. (Er war ins Gefängnis gekommen, nachdem er einen betrunkenen englischen Sergeanten geschlagen hatte, der seine Frau belästigte. Eingesperrt und dann öffentlich ausgepeitscht. Dort bei dem Baum im Zentrum der »Siedlung«, dieses Kreises aus Hütten. Um die Mittagszeit, ausgezogen bis auf die Unterhose. »Er ist weg«, sagten die Dorfbewohner einfach. Danach. Er packte seine Sachen, ging, verschwand. Andere, die jetzt tot waren, behaupteten, er sei in den Ozean gegangen, in einem strahlend weißen
bubu
bis zur Taille, dann bis zum Kopf, ohne stehen zu bleiben. Weiter, vorwärts, abwärts, in den Ozean hinein. Wie Jesus. Mit Gewichten. Unter dem Mond. In die Dunkelheit.)
Sein Bruder blickte erstaunt auf, als er hereinkam, sagte aber nichts. »Lass mich allein«, sagte er zu seinem Bruder, und sein Bruder ging.
Sie hätte schlafen können, so wie sie dalag. Er hatte Familien das sagen hören und hatte bisher immer darüber gelacht. »Wir haben gedacht, sie ruht sich aus«, sagten die Leute über die geliebte alte Großmutter, die Tage nach ihrem Tod ins Krankenhaus gebracht wurde, bereits verwesend.
Idioten
, hatte er jedes Mal gedacht. Jetzt verstand er die Verwechslung. Sie sah aus, als würde sie schlafen. Gab aber keinen Laut von sich. Träumte nicht laut von all den Orten, an denen sie nie gewesen war.
Sie war tot, in dem Dorf, dem einzigen Ort, an dem sie je gewesen war.
Sein Herz brach, an einer Stelle. Der erste Bruch. Er spürte ihn nicht. Olu gluckste leise, das einzige Geräusch im Raum. Kweku schaute Olu an – plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er ihn im Arm hielt. Olu fixierte ehrfürchtig den Schmetterling auf der Zehe der Toten.
Schwarz und blau (Ritterfalter), hatte sich gerade erst niedergelassen, ein fast neongrelles Türkis, schwarze Markierungen, weiße Punkte. Der Schmetterling schwebte nun um den Fuß seiner Mutter herum, eine träge Runde, dann hob er ab, flatterte unbekümmert hinauf in die dreieckige Wölbung und zu dem kleinen Fenster hinaus. Fort.
»Das ist deine Großmutter.« Kweku korrigierte die Zeit:
»War.«
Olu schaute seinen Vater an, erkannte seine Stimme nicht. Und Kweku zu seiner Mutter: »Ich hab es dir versprochen«, begann er. »Ich habe dir versprochen, dass ich zurückkomme …«, doch den Rest brachte er nicht über die Lippen.
Da setzte er sich auf den Fußboden, auf eine Bastmatte. In der Hitze und in dem Geruch, dem Geruch des neuen Todes. Er rieb Olu den Rücken, bis der kleine Junge einschlief (fünfzehn Minuten, mehr nicht, so ein braves Kind.) Dann saßen sie im Halbdunkel, wer weiß, wie lange, vielleicht Stunden. Während das Sonnenlicht auf der Wand sich verändert, wandert.
Er dachte nicht, was er gedacht hatte, dass er denken würde. Dass er nicht hätte fortgehen sollen. Ohne sich zu verabschieden. Dass er nicht hätte sagen sollen, was er sagte, als er sie das letzte Mal
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