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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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in diesem Moment nun sah er etwas anderes: Sie insistierten beharrlicher auf Schönheit. Immer und in allen Dingen wurde auf Stil gepocht. Selbst hier in dieser Bruchbude, in Secondhand-Klamotten, an einem Tisch neben einer Badewanne sitzend, bestand Fola auf Stil. Hatte dieses goldgesprenkelte Tuch gefunden, zweifellos teuer, von ihrem Vater, um es um ihren Afro zu wickeln, passend zu ihrem Namen. »Reichtum verleiht mir die Krone.«
Folasadé
. Sie sah phantastisch aus.
    Er kam in die Wohnung und erstarrte in der Tür.
    Ihre Hände lagen gefaltet auf der roten Plastiktischdecke, wie man sie für ein Picknick kauft und dann wegwirft. Die hatten sie heimlich und etwas beschämt von seinem Einführungs-Grillabend mit nach Hause genommen. Fola fand, dass diese Tischdecke den Raum ein bisschen belebte. Blumen waren auch da. Klar. Alles sah aus wie immer. Das Bett war gemacht. Das Baby schlief. Und atmete, wie er rasch überprüfte.
    Weil irgendetwas nicht stimmte.
    Er blieb in der Tür stehen und wusste, dass etwas nicht stimmte.
     
    Er sah den Brief nicht, der auf dem Tisch lag. Nur Fola, die den Kopf drehte, ihr Hals starr vor Angst. Sie sagte nichts. Er rührte sich nicht. Sein Kameramann kam durchs Fenster geklettert. Szene: Junger Mann erhält eine schreckliche Nachricht. Er stellte seine Tasche ab. Um beide Hände frei zu haben. Um alles mit ihnen tun zu können, je nach dem, was sie zu sagen hatte.
    Sie sagte: »Deine Mutter ist krank, Liebling.« Sie hielt den Brief hoch. »Dein Cousin hat unsere Adresse vom College bekommen und geschrieben.«
    Zu viele Wörter für ihn, er konnte sie nicht alle gleichzeitig verarbeiten.
Mutter. Krank. Cousin. Adresse, Geschrieben.
Welcher seiner Cousins konnte überhaupt schreiben? Diese gemeine, bestechende Frage wurde als erste ans Ufer gespült. »Meine Cousins sind Analphabeten! Sie haben keine Ahnung«, schimpfte er los, ohne zu wissen, warum er schrie und warum er Fola anschrie. »Das ist gelogen!«
    Sie schaute ihn nur an, mit diesem Gesichtsausdruck: die Brauen zerknittert, ihr Mund nach unten verzogen, ein umgekehrtes Lächeln. War es erst gestern, dass ihm auffiel, wie sie auch bei Olu immer so ein Gesicht machte, wenn er weinte, um sich zu beklagen? Die Brauen zerknittert, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
»Okunrin mi«,
sagte sie dann. Mein Sohn. »Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Es tut weh.« Sie wusste es wirklich. Konnte den Schmerz anderer Leute buchstäblich spüren, echte Empathie, etwas, was er nicht für möglich gehalten hatte, als sie sich kennenlernten. Er stellte endlose Fragen. Wo im Körper spürte sie den Schmerz? Wie konnte sie wissen, dass es sein Schmerz war und nicht ihrer? (In der Brust, auf der linken Seite, ein rein körperlicher Schmerz, der anderswoher kam, jetzt vertraut, echte Empathie.) Dieses Gesicht.
    »Liebling«, sagte sie sanft.
    »Es ist gelogen«, wiederholte er. Aber leise. Und war jetzt froh, dass er die Hände frei hatte. Er fasste nach seinem schwindeligen Kopf, drückte die Handschuhe gegen die Stirn, ein vergeblicher Versuch, sein Gehirn zusammenzuhalten. »Sie war noch nie in ihrem Leben krank. Was sagen sie?« Er ging zu ihr.
    Sie gab ihm den Brief, legte ihre Hand auf seine freie Hand. Es war das billige Air Mail-Papier, das kein Mensch mehr verwendete. Dünne, pastellblaue Seiten, die zu Umschlägen wurden, wenn man sie faltete.
    Lauter Großbuchstaben, schräg aufwärts.
    Krakelige schwarze Schrift.
    In dem Brief stand nicht, dass seine Mutter krank sei. Da stand, dass sie im Sterben lag und in einem Monat tot sein würde. Gestern war der Brief zwei Wochen alt gewesen. Kweku ließ ihn auf den Tisch sinken. Seine Hände begannen zu zittern (andere Teile von ihm ebenfalls). Fola sprang auf und schlang die Arme um seine Schultern. Zum ersten Mal, seit er den beigefarbenen Mantel gekauft hatte, fand er ihn gut. Weil er so dick war, schuf er eine Distanz zwischen ihrer Brust und seinem Zittern, zwischen seiner Frau und seiner Schwäche, seinen bebenden Gliedmaßen. (Und sein Kameramann, der am anderen Ende des Raums beim Fenster stand, konnte den zerbrechenden Helden nicht filmen, wegen des tristen schützenden Mantels.)
    »Wir gehen nach Ghana«, sagte sie.
    »Mit welchem Geld?«, murmelte er. »Wir haben nicht das Geld dafür.«
    »Wir bitten darum …«
    »Nein.«
Verzweifelt redete er weiter: »Sie überreagieren doch nur … es ist eine Infektion, nicht Krebs … sie ist noch keine fünfzig. Bis Silvester geht es

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