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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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matt.
    »Euer Vater ist fort«, erklärte Fola damals, leise. Ein Wochenende muss es gewesen sein. Olu war zu Hause. Sie saßen am Tisch und frühstückten, alle vier, Fola stand an der Arbeitsplatte und schnippelte Ingwer. Schnee. Niemand stellte eine Frage, jedenfalls nicht in ihrer Erinnerung; sie selbst bestaunte die Farbe ihrer Milch mit Lucky Charms und schaute dann ihre Geschwister an, die Gesichter ihrer Brüder, das Gesicht ihrer Schwester, eine ernste Olu-Maske und die vier Bernsteinfunken. Taiwo stand vom Tisch auf, ohne etwas zu sagen. Fola nickte. Kehinde stand auch vom Tisch auf, rief: »Taiwo!« und lief hinter ihr her. Olu ging zu Fola und nahm sie in die Arme. Sie sagte: »Ich hab dich lieb«, und Olu sagte: »Ich weiß.« Olu ging aus der Küche, küsste Sadie auf die Stirn. Fola schaute Sadie an. »Nur noch wir zwei, Schätzchen.«
    Jetzt kommt die Trauer, ein Aufwallen in der Stille. Sie öffnet die Augen, und der Schmerz quillt heraus, nicht der Schmerz, den sie herbeirufen wollte, weil sie ihren Vater verloren hat, sondern die Sehnsucht nach Fola. Sie vermisst ihre Mutter. Das elementarste aller Gefühle, eine tiefe, pulsierende Sehnsucht, obwohl ein paar Minuten vergehen, bis sie begreift, was es ist, und noch ein paar Minuten, bis sie tief Atem holt und sich, immer noch weinend, müde auf ihre alte Kente-Decke zurücklehnt. (Eigentlich Folas alte Decke – verschlissen, verblasst und weich, was schwarz war, ist grau, was rot war, ist pink, aber die Decke ist ihr, Sadies, Lieblingsobjekt, ausgegraben im Keller in Brookline, als sie sich mit Folas alten Sachen verkleidete. Sie hüllte sich in die Kente und marschierte begeistert in die Küche. »Ich bin eine Yoruba-Königin!« Als Fola sie sah, stöhnte sie, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen, mit Tränen in den Augen. »Du bist eine Prinzessin«, flüsterte sie und schloss sie in die Arme, »eine kleine Prinzessin«. Aber mehr sagte sie nie, sie spricht nie über ihre Vergangenheit.) Sadie liegt da, die Knie bis an die Brust gezogen, und die Tränen rollen auf beiden Seiten zu ihren Ohren, auf das Kissen. Und sie denkt:
    An Fola, Jahre später.
    Das Gesicht, wie nach einem Fausthieb.
    Es hätte nicht gesagt werden dürfen.
     
    Ein anderes Haus, eine andere Küche, vor zwei Monaten (knapp, nur sieben Wochen, aber es fühlt sich an wie zwei Jahre, denkt Sadie). Sie war das Wochenende zu Hause, Halloween, und höhlte Kürbisse aus. Folas neueste Erfindung, ein Knüller im Laden: ausgehöhlte Kürbisse voller Blüten und Blätter, aprikosengelbe Chrysanthemen, Tagetes, Hortensien, Heidekraut, Cranberry-Zweige, groß in Mode bei den Hausfrauen von Chestnut Hill in dem Jahr, seit dem Artikel im
Boston Globe’s Sunday Magazine
. Mini-Kürbisse als Blumentöpfe. Typisch Fola: Etwas-aus-Nichts, das Beste daraus machen, eine Ode an Halloween, ihr Lieblingsfest, kostümierte Geister, und man macht Geschenke. »Wie eine Yoruba-Fetischzeremonie, aber mit Süßigkeiten«, schwärmte sie immer, hatte ihnen von Hand ihre Kostüme genäht, jedes Jahr eine
orisha
, immer mit einem leisen Lachen, weil sie nie etwas ganz ernst nahm. Nichts, außer der Schönheit. Und manchmal sie, Sadie.  
    Das Baby. »Baby Sadie« sagt Fola zu ihr (oder hat sie zu ihr gesagt), ihrer Mutter am ähnlichsten und ihr in gewisser Weise auch am nächsten, weil sie noch zehn Jahre ohne ihre Geschwister zu Hause war, nur sie beide, Einzelkind und alleinerziehende Mutter, BFF . Sie haben jeden Tag mindestens einmal miteinander telefoniert, haben zweimal im Monat das Wochenende gemeinsam verbracht, Eintopf gekocht, Fruchtpastete gebacken, ihre Zöpfe entflochten, Filme über Naturkatastrophen angeschaut, in der Innenstadt Schnäppchen gejagt. Taiwo sagt, Fola behandelt Sadie wie ihr Lieblingskind (darauf Fola: »Sie ist meine liebste zweite Tochter, du bist meine liebste erste Tochter«), aber Sadie sagt, dass Taiwo ihre Mutter einfach nicht
versteht
, während Sadie sie versteht und sie so akzeptiert, wie sie ist. Die Art, wie Fola denkt, die komische Art, wie Fola sich verhält, mit ihren vagen, neutralen Antworten und ihrem fernen Lachen, der äußere Anschein der Gleichgültigkeit und das undurchdringliche Schweigen – Sadie findet das alles entspannend, erleichternd. Und außerdem sagt Philae, sie ist neidisch, weil Sadies Mutter so cool ist, und Sadie platzt fast vor Stolz, weil Philae sie beneidet. Es ist das Einzige, was Sadie hat und Philae nicht (denkt

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