Diese Dinge geschehen nicht einfach so
meinst du
dann
, Baby?«
Daraufhin Sadie: » ICH BIN KEIN BABY MEHR , VERDAMMTE SCHEISSE !«
Fola ließ vor Schreck den Löffel fallen. Sadie brach in Tränen aus, vor Schreck. Sie hatte in ihrem ganzen Leben Fola noch nie angeschrien oder beschimpft, und jetzt konnte sie sich nicht mehr bremsen. »Mein Baby, Baby Sadie, Baby, Baby. Ich bin neunzehn, Herrgottnochmal! Ich bin kein Baby! Ich bin kein Kind! Ich bin nicht dein Ersatz-Ehemann! Es sind jetzt, keine Ahnung, fünfzehn Jahre, seit du Dad verlassen hast, Mom, oder seit Dad uns verlassen hat? Ich finde – meinst du nicht, du könntest dir allmählich jemanden suchen und ein eigenes Leben haben? Ich bin neunzehn – im Grunde schon zwanzig –, ich habe keine Lust mehr, dauernd hier bei dir zu sein. Am Wochenende. An Weihnachten. Am Telefon. Das ist zu viel. Ich will mein eigenes Leben leben!«
Fola legte den Kopf schräg, die Stirn gerunzelt, den Mund nach unten gezogen. Sagte aber nichts. Sie lachte, das Lachen klang wie ein Schluchzen. Dann drehte sie sich weg und ging aus der Küche.
Sadie wartete einen Moment zu lange, dann folgte sie dem Klang der Schritte auf Holz, den Flur entlang, an dem Zimmer für die Kinder vorbei (ein einziges Schlafzimmer) bis zum Elternschlafzimmer, aber sie kam zu spät. Die Badezimmertür fiel ins Schloss. Das Klicken eines kleinen Riegels. »Mom«, sagte sie. Sie klopfte an die Tür.
»Geh«, sage Fola. »Geh und leb dein Leben.«
Sie klopfte wieder. »Bitte, Mom. Es tut mir leid.«
Aber Fola sagte nichts und kam auch nicht heraus. Sadie saß vor der verriegelten Tür zum Badezimmer ihrer Mutter, dieser Kammer der Geheimnisse, eine Stunde, vielleicht länger, während draußen die Sonne unterging, tropfendes Orange, und es im Schlafzimmer dunkel wurde und dann mondhell, blassgrau. Schließlich stand sie auf, klopfte noch einmal, verkündete: »Ich gehe jetzt« und wartete darauf, dass Fola die Tür öffnete. Sie tat es nicht. »Ich hab dich lieb.« Keine Antwort. Knoten im Magen. Sie ging in ihr eigenes Zimmer, gab ein spätes Lunch von sich. Dann wieder zurück in die Küche, zurück zum Tatort, wo sie das Chaos beseitigte, dann rief sie ein rotes Taxi, packte ihre Sachen, fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof, mit dem Zug zurück zur Uni, und ihr war immer noch nicht klar, was sie eigentlich gemeint hatte mit all den Sachen, die sie gesagt hatte.
Fola rief am Abend nicht an. Fola hat sich seither nicht mehr gemeldet. Ein paar Tage später rief Olu an, um ihr zu sagen, dass sie umziehe. »Was heißt das, sie zieht um?«
»Sie zieht nach Ghana.«
»Wann?«
»Am Freitag.«
»Wie bitte?«
»Mehr hat sie nicht gesagt. Und ihr habt immer noch nicht wieder miteinander geredet. Du musst sie anrufen, Say.«
»Ich weiß.«
Aber sie ruft Fola nicht an.
Sie möchte ihr sagen, dass sie sie liebt, dass es ihr leidtut, dass sie keine Sekunde lang vorhatte, so schreckliche Sachen zu sagen, und dass Fola nicht allein ist, auch wenn es in der Wohnung in Coolidge Corner vielleicht so aussieht und sie das vielleicht denkt – aber sie schafft es nicht: denn zwei der vier Dinge sind nicht wahr, und sie hat Folas neue Nummer nicht.
Deine Mutter ist fort
, denkt sie, in Kleidern auf dem Bett zusammengerollt, auf dieser Decke, die nach Vergangenheit riecht, nach einer Zeit, die sehr kurz war, als sie noch in einem Haus wohnten mit dem Mann-aus-der-Geschichte und sie noch ein Ganzes waren. Sadie weint sehr leise, sie weint um alles, was
wahr ist
, um den Verlust dieses Mannes und weil sie ihre Mutter vermisst, weil alles so leicht geworden ist und weil sie sich so verloren fühlt, weil sie alle so allein sind, so weit weg voneinander entfernt, so diffus. Was sie Fola nicht sagen kann, ist, warum sie Weihnachten hasst, warum sie sich danach sehnt, während dieser Woche in St. Barth’s zu verschwinden: damit sie die Distanz nicht spüren muss, den herzzerbrechenden Unterschied zwischen dem, was aus ihnen geworden ist, und dem, was eine Familie sein sollte. In St. Barth’s und bei den sonnengebräunten Negropontes bleibt sie wenigstens von der Ikonographie verschont: die Werbung im Fernsehen und die Schaufenster in der Einkaufsstraße und die Lieder und die Versicherungen, dies sei doch die schönste Zeit des Jahres. In St. Barth’s kann sie von außen beobachten, wie alle streiten und lachen, die Familie beim Spielen, und zwar eine echte, eine echte Familie, bei der nicht alle so tun, als wären sie glücklich, weil
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