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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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sie). Ihre Mutter. Ihre treue, unersetzliche, Geheimnisse bewahrende, verschwiegene, unerschütterliche, wunderschöne Mutter.
    Aber dann, als sie vor nicht ganz zwei Monaten in der Küche standen und Kürbisse aushöhlten – der Nachmittag ging gemächlich in den Abend über, das Laub im Garten draußen bot eine spektakuläre Show von Edelsteinfarben, und es entstand diese seltsame Schicht der Ruhe, die sich immer zwischen ihnen und um sie herum bildet und die so stark ist wie das Licht –, da nahm Sadie plötzlich und unerwartet ihrer Mutter dieses undurchdringliche Schweigen übel. Knoten im Magen. Sie legte ihr Messer weg. »Mom«, begann sie.
    »Mmm?«, machte Fola gedankenabwesend, ohne sie anzusehen. Feuchte Samen an den Händen.
    Die Erkennungsmelodie der Radio-Nachrichten
All Things Considered
setzte ein und verlieh der Stille eine Struktur.
    Sadie schaute hinaus, auf das Laub im Sonnenuntergang, dieses neuenglische Spektakel, der kleine Garten, Teil eines Gittermusters aus kleinen Gärten für die Townhouse-Wohnungen (die dritte und letzte Wohnung, in die Fola zog, als Sadie in Yale anfing, innerhalb von einer Woche – die Sachen aus den Zimmern ihrer Kinder packte sie in Kartons, und die Kartons lagerte sie ein), immer noch fremd, dieser Blick, nach drei Wochenend-Jahren – dann schaute sie wieder zu ihrer Mutter und versuchte, den Gedanken zu fassen zu bekommen. Was war das, fragt sie sich jetzt, in dieser Situation, draußen vor dem Fenster, in diesem Feuersturm aus Gelb und Umbrabraun und Rot im Sonnenlicht, wie eine Ansichtskarte, der idyllische Indian Summer in Coolidge Corner dauerte dieses Jahr ungewöhnlich lang,
Wäre schön, wenn du auch hier wärst!
 – was machte sie hier so einsam, so unendlich einsam? Was gab ihr das Gefühl, dass ihr Leben, ihres und Folas, ein einziger Schwindel war – dass sie beide gar nicht in dieses Bild, auf diese Postkarte gehörten – dass sie beide Hochstaplerinnen waren? Sie weiß es immer noch nicht. »Ich habe gelesen, was du wegen der Weihnachtsferien geschrieben hast, aber Boston war ja letztes Jahr. Dieses Jahr ist St. Barth’s dran.«
    »Ich weiß, Schätzchen«, sagte Fola, wieder ohne aufzusehen. »Aber du kannst ja nächstes Jahr die Doppelnummer machen.«
    Sadie sackte in sich zusammen. Was jetzt? Sie ging jedes zweite Jahr an Weihnachten mit den Negropontes nach St. Barth’s, flog am dreiundzwanzigsten Dezember mit Philae von JFK los und kam dann am dreißigsten nach Boston, um mit Fola Silvester zu feiern, ihre einzige Familientradition. Am ersten Abend das Essen bei Uno’s, Pizza Spinoccoli, dann der Hafen, um zu zählen. Die Zwillinge kamen nie nach Hause, und Olu feierte immer mit Ling. Also nur sie beide, dicht aneinandergeschmiegt, untergehakt. Dieses Jahr bestand ihre Mutter jedoch darauf, warum auch immer, dass Sadie zwei Jahre nacheinander in Boston Weihnachten feierte und dass
alle
Kinder heimkamen, Olu, Taiwo und Kehinde, wenigstens für den Weihnachtstag. Mit völlig untypischen Gefühlsäußerungen und, noch untypischer, unter Verwendung elektronischer Kommunikationsmittel hatte sie letzte Woche eine drei Sätze lange Nachricht zu diesem Thema verschickt, eine Gruppen-Mail. Da stand: »Ihr Süßen, ich möchte, dass wir an Weihnachten zusammen sind, alle miteinander. Bitte gebt mir Bescheid. Alles Liebe, Eure Mutter.« Komische Wortwahl, »Eure Mutter«, sie nannte sich selbst nie Mutter. Sibby, ja, klar: mit rotem Gesicht unten an der Treppe, schluchzend und kochend vor Wut und die Faust schüttelnd: »Ich bin deine Mu-tter, junge Da-me«, jede Silbe einzeln. »Du wirst tun, was ich dir sage!« Fola schluchzt nicht und kocht auch nicht vor Wut. Sie schreit ihre Kinder nie an. Wenn eins ihrer Kinder
sie
anbrüllt, dann legt sie nur den Kopf schräg und wartet. Es ist nicht eigentlich Geduld, auch nicht Zurückweisung, irgendetwas dazwischen, ein Interesse an den Qualen des Schimpfenden, Empathie, aber mit Distanz.
    »Das ist nicht der Punkt«, sagte Sadie schließlich, woraufhin Fola hochblickte und Sadie den Blick senkte. Die Arbeitsplatte zwischen ihnen (und noch härtere Dinge). »Ich möchte Weihnachten mit einer
Familie
feiern.«
    Fola lachte. »Du hast deine eigene Familie.«
    »Wir sind keine Familie«, murmelte Sadie. Sehr schnell, sehr leise.
    Das Gesicht, wie nach einem Fausthieb.
    »Wie meinst du das?« Fola lachte immer noch. »Ich kann dir versichern, ihr seid alle von mir.«
    »Das meine ich nicht.«
    »Was

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