Diese Dinge geschehen nicht einfach so
über den Stufen darunter stand halb offen, wie Kehinde sagte: »Vielen Dank – es tut mir leid.« Und Taiwo erwiderte: »Sag das nicht die ganze Zeit. Sag nicht die ganze Zeit ›es tut mir leid‹.« Sadie spähte aus dem Fenster und sah die beiden von hinten, goldbraun im Licht der Straßenlaterne. »Sie hätte sowieso nicht geglaubt, dass es dir gehört.«
Taiwo kiffte also nicht einmal.
Was machte sie dann? Sie heimste erstklassige Noten ein, wurde größer, bekam viel Aufmerksamkeit, wurde wütend, fing Streit mit ihrer Mutter an oder hackte auf Sadie herum oder sagte einfach tagelang kein einziges Wort. Kehinde versicherte ihr, Sadie, dass ihre Schwester sie nicht hasste, dass Taiwo »einfach so ist«, allen Leuten gegenüber, aber so redete Kehinde immer, er spielte permanent den Friedensstifter, und Sadie glaubte eher, dass Olu die Wahrheit sagte. »Sie ist sauer, weil du hier geblieben bist«, erklärte er ganz direkt. »Die beiden sind nach Nigeria geschickt worden. Du durftest hier bleiben.« Vielleicht. Aber vielleicht ist es wie mit Olu und Kehinde, die auch nicht gerade die besten Freunde sind. Sie passen einfach nicht zusammen, eine pflichtbewusst, unrebellisch, gut-bis-mittelmäßig, umgänglich. Der Wind unter den Flügeln. Die andere der Vogel.
Ein Vogel, der kreischt. »Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, ich höre dir zu.«
»Dann gib doch mal einen Mucks von dir. Ich dachte schon, du hast aufgelegt.«
»Nein, ich bin da. Ich bin immer noch da. Ich bin nur … ich bin nur still, wenn ich zuhöre.«
»Ich weiß, es ist schwer …«
»Es ist nicht schwer. Es ist überraschend. Ich höre zu. Was hast du gesagt?«
Taiwo sagt: »Ich habe gesagt – und wenn du zugehört hättest, dann wüsstest du es –, dass wir unsere Visa um zehn beim Konsulat abholen müssen, das heißt, du solltest so schnell wie möglich mit dem Zug hierherkommen.« Da denkt Sadie plötzlich an Kehinde, an die Karte. »Hast du schon mit Kehinde gesprochen?«
»W-was? Nein, noch nicht.« Taiwos Stimme kippt. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du musst nach New York kommen.«
»Ich kann nicht. Ich muss eine Seminararbeit abgeben.«
»Wie bitte?«
»Ich muss sie persönlich abgeben.«
»Warum?«
»Sie muss unterschrieben werden. Damit das Datum stimmt, keine Ahnung.«
»Unser Vater ist tot.«
»Das macht die Hälfte unserer Note aus.« (Was einen Nerv trifft.)
»Soll das ein
Witz
sein?«
Taiwo redet weiter, das übliche Gelaber über soziale Werte, mit rauer Stimme, während Sadie in stummer Panik ihren Papierkorb durchwühlt, bis die den FedEx-Umschlag findet, in dem die Karte gekommen ist. Sie hört eine kurze Pause, dann: »Wieder nichts als Schweigen.« Sie hält das Telefon an den Mund. »Nein, ich bin da. Ich bin immer noch da. Und du hast recht. Mir ist gerade was eingefallen. Ich kann die Arbeit zu ihr nach Hause bringen.«
»Zu wem nach Hause?«
»Zu meiner Professorin.«
»Okay. Wo?«
»In New York.«
»Okay,
wo
in New York?«
»Irgendwo in Brooklyn, glaube ich.« (Auf den Umschlag gekritzelt, eine Greenpoint-Adresse.)
»Gut, Sadie.« Taiwo seufzt. »Komm her. Ich bringe dich nach Brooklyn. Wie schnell kannst du hier sein?«
»Ich nehme die MetroNorth. Wenn ich so um sieben losfahre, bin ich gegen neun da.«
Sie tauschen noch ein paar Abschiedsfloskeln aus.
Sadie legt auf.
Ruhe. Sie sitzt im Dunkeln, wiederholt den Satz: »Unser Vater ist tot.« Nicht einmal ein Gefühl der Überraschung. Gekreische, schallendes Gelächter draußen auf dem Flur, dann singen ein paar Stimmen:
»Under the bridge down-tooown!«
. Der Schnee. »
Dein
Vater ist tot«, sagt sie und wartet auf die Trauer (ruft sie). Immer noch nichts. Sie schließt die Augen. Sie will etwas fühlen, eine normale Reaktion, irgendein Zeichen, dass es etwas bedeutet, wenn jemand geht, zumal wenn es der Vater ist, der schon vor so langer Zeit gegangen ist, dass sein Gegangen-Sein seine Existenz vollkommen ersetzt hat. Sie kneift die Augen zu, ruft sich das Foto ins Gedächtnis, wie er dasitzt, nachdem er ihr gerade das Leben gerettet hat, aber sie spürt nur die Entfernung, die angehäufte Abwesenheit, wie weiche Schneehügel zwischen damals und jetzt. Sie versucht es anders: »Dein Vater ist nicht mehr da.« Dann hört sie es. »Euer Vater ist fort.« Eine Erinnerung, die nur selten hochkommt, die Erinnerung an einen Nachmittag im Winter, als sie noch im Kindergarten war. Ihre Mutter in der Küche, Augen und Stimme
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