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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Weihnachten ist, sondern bei der alle wegen St. Barth’s glücklich sind. Der Strand und die Sonne und die Boote – alles riecht verlogen, die Wahrheit ist für jeden sichtbar: dass die ganze Angelegenheit nichts als Heuchelei ist, geröstete Kastanien und Schlittenglöckchen, und ihre größte Angst ist die Realität: Sie gehört nicht dazu. Aber sie
soll
ja auch gar nicht dazu gehören. Hier nicht.
    Was sie Fola nicht sagen könnte: dass es viel weniger weh tut, bei einer Familie, die nicht ihre eigene ist, nicht dazuzugehören, als in Boston herumzusitzen, nur sie beide, zu lächeln und sich gegenseitig die Gründe aufzuzählen, warum sonst keiner heimkommt. Selbst wenn sie kommen – Ling und Olu und Taiwo, Kehinde aus London –, ist es nicht das Gleiche. Fola denkt, sie kann die Dinge ändern, aber Sadie weiß es besser, sie weiß, dass alle nur eines tun werden, nur eines tun
können
, nämlich lügen. Und sie will es nicht an irgendeinem Esstisch verkünden, in der Wohnung, in die Fola aus einer Laune heraus an einem Wochenende gezogen ist, sie will nicht dasitzen mit ihrem Bruder und den Zwillingen und ihrer Mutter, und alle lügen mit ihrem Lächeln, jeder von ihnen fühlt sich absolut allein, und sie essen entweder etwas Nigerianisches, von Fola gekocht, was lecker schmeckt, aber angesichts von Baum und Schnee irgendwie unpassend wirkt, oder sie essen ein traditionelles Weihnachtsgericht, das
noch unpassender
wirkt und nicht lecker schmeckt, weil es von der Restaurant-Kette
Boston Market
stammt. Beim Gedanken daran kommen ihr die Tränen. Die ganze Bagage, die versprengte Fünfergruppe (einer weniger), und alle essen gebackene Bohnen. Und so weint sie sich in den Schlaf, angekleidet, und weil keiner kommt, um nach ihr zu sehen, schläft sie stundenlang, ungestört.
    * * *
    Jemand klopft an die Tür.
    Sie schläft auf der Kente-Decke, immer noch in Kleidern. Öffnet die Augen, blickt sich in dem leuchtend grauen Wohnheimzimmer um und späht dann aus dem Fenster: eine dicke Schneedecke. Sonnenaufgang, blasses Rosarot, das große Finale des Schneesturms, absolute Stille, die ganze Welt weiß gewaschen. Sie schaut auf die Uhr ihres iPhones, reibt sich die Augen, die brennen und verquollen sind vom Weinen. Und denkt, es war ein Traum – der Anruf, der Kuss –, da klopft es wieder leise, und die Tür öffnet sich einen Spaltbreit.
    Da ist sie. Die wunderschöne, unpassend gekleidete Taiwo, ihr Gesicht von der Kälte rötlich braun. Sie steckt den Kopf zur Tür herein, noch Schnee in ihren Dreadlocks, und ihr weißer Pelzmantel riecht penetrant nach Parfum. »Du bist noch da«, ruft sie atemlos. »Gottseidank, dass du noch nicht weg bist.« Und dann sagt sie noch, dass sie sich geirrt hat, dass sie nach ihrem Telefongespräch zur Grand Central Station gerannt ist und dort einen Zug nach New Haven gesucht hat, weil sie ihren Irrtum bemerkt hat – es stimmt nicht, dass es nichts gibt, wo sie hingehen kann, niemanden, keinen Zufluchtsort. Sadie wird zwanzig, Baby Sadie, am College, und die hat Geburtstag … und Sadie kann ihr nicht folgen, weil sie vor Verwunderung ganz taub ist, in ihrem Kopf blinken nur immer wieder dieselben drei Wörter, an, aus, an, aus. Wenn sie viele Jahre später an diesen Moment denkt – wie ihre Schwester auf der Schwelle ihres Wohnheimzimmers in Yale steht, voller Schneeflocken, in Highheels, wie sie die Tür schließt und verstummt, wie sie sich zu ihr legt, auf das extra lange Doppelbett, wie sie die Arme um Sadie schlingt, Flügel aus weißem Pelz, Flügel, die seltsamerweise nach Vater riechen, nach jemandem, den Sadie nicht kennt –, wenn sie daran denkt, wird sie nur ihre Stimme im Kopf hören, in der Stille:
Sie ist gekommen sie ist gekommen sie ist gekommen sie ist gekommen sie ist gekommen.

Fünf
    Sie fahren in die Stadt , Sadies Kopf auf Taiwos Schulter, Taiwos Kopf am Fenster, und sie tun beide so, als würden sie schlafen. Am Bahnhof angekommen, überlegt Taiwo, ob Sadie nicht die Professorin kontaktieren sollte und ihre Arbeit jetzt vorbeibringen? Sie sind näher bei Brooklyn, erklärt sie in der Grand Central Station, sie können ein Taxi nehmen und dann die U-Bahn uptown. Sadie sagt, es ist doch irgendwie peinlich, eine Professorin anzurufen, sie will den Essay einfach nur in den Briefkasten stecken, mit einem Zettel. Sie holt einen braunen Umschlag hervor, auf dem hinten von Hand geschrieben steht: »N°  79 Huron Street, Brooklyn, New York«. Ein

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