Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
Vom Netzwerk:
was?«
    »Die Musik.«
    »Es ist eine Party. Die Prüfungen sind vorbei.« Sie erinnert Taiwo nicht daran, dass heute ihr Geburtstag ist.
    »… schlechte Nachrichten.«
    Taiwo redet weiter, aber Sadie kann sie nicht hören. »Ich versteh dich nicht! Kannst du mich vielleicht auf dem Handy anrufen? Ich gehe in mein Zimmer.« Sie denkt, dass sie ein »Ja, klar« gehört hat, und geht in ihr Zimmer, macht aber nicht das Licht an. Später wird sie die Stunden rückwärts zählen, bis Mitternacht. Als es anfing zu schneien in New Haven, der Kuss, Philaes Lippen auf ihren Lippen und die Tränen in ihrem Bauch, fünf Stunden vor ihr: Sonnenaufgang in Ghana. Hat sie es gewusst? Hat sie es gespürt? Den Verlust ihres Vaters, den Tod eines Mannes, den sie fast nicht gekannt hat, der weg war, bevor sie in die Grundschule kam? Wie soll sie das gespürt haben? Was hat sie überhaupt verloren?
    Eine Erinnerung.
    Es ist die Erinnerung der anderen.
    Der Mann auf dem Foto, auf diesem einen verschwommenen Foto von ihr und ihrem Dad in trüben Gelb-, Braun- und Ocker-Orange-Tönen, wie anscheinend alle ihre Fotos aus den achtziger Jahren. Er sitzt in dem Schaukelstuhl im Kinderzimmer des Krankenhauses, gesehen aus der Perspektive der Krankenschwester, die in der Tür steht, und sie, Sadie, ist ein winziges Bündel, neugeboren, ihre Hand um seinen Finger gekrallt. Er trägt einen blauen OP -Kittel und ist unrasiert. Der Mann-aus-der-Geschichte. Der kaum Ähnlichkeit hat mit dem Mann, an den sie sich erinnert: aufrecht, angespannt, immer im Aufbruch begriffen, frisch rasiert, ordentlich, morgens, wenn er in einem frisch gebügelten weißen Arztmantel zur Haustür hinausgeht. Aber der Mann, den sie sich vorstellt, wenn sie an »ihren Vater« denkt, ist diese zerbrechliche, gutaussehende Gestalt mit Olus dunkler Haut und mit den gleichen Augen wie sie selbst, schmal und schräg, vom Schnitt her fast asiatisch, sanft wie Kuhaugen, ein weiches Dunkelbraun (aber nicht die Augen, die sie gern hätte: nicht die Augen der Zwillinge, exotisch bernsteingelb), nicht besonders groß, vielleicht einsachtzig, gleich groß wie Fola, aber imposant wie alle Helden, achtunddreißig Jahre alt.
    Der Mann-aus-der-Geschichte.
    Der sie heldenhaft gerettet hat.
    Eine Erinnerung, die Fola gehört und Olu, nicht ihr – und doch sitzt sie hier, weinend um Mitternacht, überwältigt von einer seltsamen Trauer, einem grundlosen Schmerz, bis Taiwo wieder anruft. »Unser Vater ist tot.« Aber nicht jetzt. Jetzt ist da gar nichts, als sie die Nachricht hört. Nicht einmal Überraschung. Sie schaut aus dem Fenster, hinaus auf den Davenport-Hof, und sie muss an ein Gedicht denken, das sie früher einmal auswendig gelernt hat.
Wess’ Wald es ist, weiß ich genau, Er wohnt im Dorf, dort steht sein Haus
. »Er wird mich hier nicht sitzen sehen«, murmelt sie. Taiwo hört das nicht. Redet weiter. »Ich weiß, dass du ihn eigentlich gar nicht richtig gekannt hast …«, während Sadies Gedanken zu kleineren Dingen wandern, zu den allerältesten, den trivialsten: das Gefühl, dass ihre Schwester sie nicht mag.
    Sie noch nie mochte.
    Das fing an in dem Sommer, als die Zwillinge aus Lagos zurückkamen. Sadie war damals fünf, fast sechs, die beiden waren vierzehn. Olu war schon seit einem Jahr auf dem College, so dass Fola und sie mit den Zwillingen in diesem Haus wohnten, dem »kleinen Haus am Highway«, wie Kehinde es nannte, dahinter ein Supermarkt, nur ein Stockwerk, kein Garten. Sadie sollte sich eigentlich ein Zimmer mit Taiwo teilen, aber Taiwo schlich meistens nachts den Flur hinunter zum Jungenzimmer (also zu Kehindes, wo noch eine Luftmatratze für Olu lag), und sie redete kaum mit Sadie, redete überhaupt kaum. Kehinde verbrachte den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer und malte, mit dem Discman und mit alten Laken als Leinwand. Fola war bis spätabends im Laden, und Sadie ging nach der Schule zu Freundinnen zum Spielen – aber was Taiwo tagsüber die ganze Zeit machte, am Wochenende, mit wem, das wusste sie nie genau. Taiwo hatte keinen Freund, oder jedenfalls keinen, von dem sie erzählte. Ein paar Freundinnen hatte sie immerhin, aber die schienen sie zu langweilen. Sie war hochbegabt am Klavier, übte aber so gut wie nie und hörte mit sechzehn ganz auf zu spielen. Einmal fand Fola Gras im Badezimmer, und Taiwo gestand alles, sehr dramatisch und defensiv. Aber kurz nach dieser Szene hörte Sadie, die sich in ihrem Zimmer verkrochen hatte, das Fenster

Weitere Kostenlose Bücher