Diese Dinge geschehen nicht einfach so
mürrischer russischer Taxifahrer erklärt sich nach einigem Brummen bereit, sie hinzubringen, aber nur gegen Bargeld, über die Queensboro Bridge, und er will wissen, was man an einem Sonntagmorgen um zehn in Greenpoint wollen kann, außer vielleicht Krakauer Wurst? Taiwo schaut hinaus, sieht die Ladenschilder auf Polnisch, die weißen Zäune, den sauberen roten Backstein. Hier war sie noch nie. Als sie am Ziel sind, runzelt sie fragend die Stirn. Der Fahrer, ebenfalls skeptisch, sagt: »Nummer siebenundneunzig. Wir sind da.« Nummer siebenundneunzig Huron Street sieht eher aus wie ein Bunker, ein kleines Lagerhaus oder eine Garage, jedenfalls nicht wie ein Wohnhaus, mit seinem riesigen Gittermuster aus Fenstern mit Industrierahmen, die aber zu hoch sind, um hineinzusehen, eine rostige Haustür. Taiwo fragt Sadie, ob sie sicher ist, dass die Adresse stimmt – was für eine Professorin wohnt denn in einer Doppelgarage? Sadie sagt, eine Professorin für feministische Theorie in Yale, und öffnet die Wagentür auf ihrer Seite, während Taiwo, die neue Beschützergefühle für ihre Schwester empfindet, zum Fahrer sagt: »Lassen Sie die Uhr weiterlaufen« und dann auf ihrer Seite aussteigt. Sadie, plötzlich mutlos, reicht Taiwo den Umschlag. Taiwo, plötzlich galant, sagt: »Bleib im Wagen« und turnte dann irgendwie über die Schneeberge, die den Gehweg bedeckten, bis zu der Tür des eigenartigen Warenlager-Hauses. Dort sucht sie mit zusammengekniffenen Augen nach einem Briefschlitz oder einem Briefkasten, und dann sieht sie es.
Sie sieht den Namen an der Klingel.
Sechs
Kehinde hört »Danse Macabre« von Saint-Saëns, außerdem das Pfeifen eines Wasserkessels und das regelmäßige Surren der Heizung. Zwar wird er sich später daran erinnern, dass er ein Rascheln gehört hat und nachsehen wollte, aber eigentlich spürt er nur (hört nicht), dass jemand an der Tür ist. In seiner Brust, auf der linken Seite, ein leichtes Ziehen. Er lässt das Bild, den Kessel, die Heizung im Stich und geht ruhig zum Eingang, den Flur entlang zur Tür. Am Sonntag kann es nicht der Postbote sein, denkt er, aber wer dann? Die einzigen Menschen, die wissen, dass er in Brooklyn ist, sind seine Assistentin in London und sein Händler in Bern (der ganze Rest scheint zu denken, dass er sich in Mali verkrochen hat oder dass er, nach den Auktionsergebnissen zu urteilen, tot sein muss). Er hält einen Pinsel in der Hand, von dem blaue Farbe auf den Boden tropft, leuchtendes Aquamarin, mit Weiß vermischt, wie die Farben in Fez. Er trägt, was er immer bei der Arbeit trägt: eine Jogginghose mit Farbspritzern, ein NYU -T-Shirt, marokkanische Babouches. Vielleicht hätte er den Wasserkessel ausmachen sollen oder den Pinsel weglegen, bevor er an die Tür geht, denkt er, und dass das Blau noch mehr Weiß braucht, dass es im Flur kalt ist, ein Sammelsurium aus Gedanken und
ein
klarer Gedanke, der Gedanke an sie, als er zerstreut die Tür öffnet – er schaut nicht hin, so dass er sie nur hört (nicht sieht): seine Schwester.
»Bist du das?«
Sie steht in seiner Tür, hinter ihr ein Taxi, die Beifahrertür offen, und Sadie steigt aus. Ihre Augen, die seine Augen sind, füllen sich mit Tränen, genau wie seine. Sie berührt seine Wange, seinen Unterkiefer, sein Kinn, den dünnen Bart, den er seit dem Sommer trägt (etwas Neues, das Eine, wodurch sein schmales Gesicht nicht
ihr
Gesicht ist, das Einzige, was sie beide sehen können, von all den Dingen, die in den vielen Monaten ohne Kontakt zwischen sie getreten sind), tastend berührt sie den Bart, nur mit den Fingerspitzen, eine Pianistin, eine Blinde, die diesen neuen Unterschied zwischen ihnen, die neue Distanz zwischen ihnen in sich aufnimmt, die Augen weit aufgerissen, während sie ihn nur ganz vorsichtig berührt, als könnte er verschwinden, wenn sie zu fest drückt, als könnte sie dadurch die Illusion zerstören, dass sie beide hier sind, jetzt, nach allem, was gesagt und nicht gesagt wurde und was zwischen sie getreten ist, die Illusion, dass alles, was von dieser Ferne noch übrigbleibt, der Pelz ist. Da beginnen ihre Hände zu zittern,
vor Kälte,
könnte er denken, wäre da nicht die Hitze in seinen eigenen Fingerspitzen.
Scham.
Ihre. Die anderswoher kommt, jetzt vertraut, unverkennbar. Ihre Scham, die er spürt, als wäre es
seine
Scham, was sie aber nicht ist, auch wenn die Scham für beide zur selben Zeit und am selben Ort geboren wurde, ganz ähnlich wie sie selbst, es sind
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