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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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getrennte Schamgefühle beim selben Gedanken.
Wir dürfen einander nicht berühren
. Sie denkt es, er fühlt es, sie lässt die Hand sinken, er senkt den Blick, sagt erst: »Ja«, dann: »Ich bin’s«, sagt es zu seinen mit Farbe verschmierten Fingern, und sie, ungläubig: »Hier
lebst
du also?«
     
    Hier
heißt: über dem Atelier, ein zweistöckiger Arbeitsplatz mit dicken, weiß gestrichenen Backsteinwänden und Oberlichtern und neun halbfertigen Porträts, die an der hinteren Wand lehnen. Er hofft, dass seine Schwestern diese Bilder von ihren Sesseln bei der blau gestrichenen Tür nicht sehen. Die Tür ist noch das Original, er hat die massive Garagentür behalten, als er das Gebäude letztes Jahr von dem älteren Jugoslawen gekauft hat, der an der Ecke wohnt und Autos repariert hat, bevor er krank wurde. Ein kleiner Vorraum beim Eingang, ein »Empfangsraum« für Gäste, falls welche kommen, ein Teppich, ein grober Holztisch mit drei Stühlen, Frank Lloyd Wright Stühlen, das Geschenk eines inzwischen verstorbenen Bewunderers, eines Kunstkritikers, der sie gegen ein Porträt getauscht hat. Sonst nichts. Nur die Farben und das eine Projekt, an dem er gerade arbeitet, auf dem Beton ausgebreitet, gut zwei Meter lang, sogenanntes »Schlammtuch«, die neue Entdeckung, eine andere Richtung nach den Porträts aus Perlarbeit, die er gemacht hat, seit er ins Ausland gegangen ist.
    Oben an der Treppe, mit Blick auf das Atelier, ist ein Zwischengeschoss, mit einer Küche, einem Badezimmer und einem Bett, mit zwei weißen Backsteinwänden und einem Fenster, vom Boden bis zur Decke, durch das man auf eine Art Dachterrasse kommt. Hier wohnt er. Seit einem Jahr, ein bisschen länger sogar, nachdem die Ärzte zu dem Schluss gekommen waren, dass er es wagen konnte – nach sechs Monaten Gespräche, Entspannungsmitteln und ständigem Wiederholen der Gründe, weshalb er sterben wollte (es gab nur einen). Stationär in einem Zimmer mit Blick auf einen Garten, sehr nieselig und englisch und irgendwie beruhigend, wie unter Wasser, lauter Grün- und Grautöne, Porzellankrankenschwestern und Porzellangeschirr für Schmerztabletten und Tee. Ein halbes Jahr schaute er diesen Garten an und malte, während die Narben langsam braungrau wurden und die grauen Zweige grün, bis dann Dr. Shipman eines Tages im August sagte: »Sie sind bereit«, die buschigen weißen Augenbrauen hochgezogen, »zu leben.«
    Hierher ist er gekommen. Ist im August von London weggegangen, als die Blumen in den Parks vor Hitze verrückt wurden. Er bat Sangna, seine Wohnung zusammenzupacken und alles zu verschicken. Er selbst war unfähig, den Ort der Handlung zu sehen. Und sie tat es. Die heilige Sangna, seine Assistentin und Steuerberaterin, ohne die er nicht mehr ein Teil der Welt wäre. In seinem Kopf, in seiner Haut, klar, da könnte er ohne sie weitermachen, ein Geist, der nur zu Gast ist, ein Traum, auf der Durchreise – aber die Außenwelt? Die Welt der Objekte? Die Kunstwelt? Die Körperwelt? Nicht ohne Sangna. Nein. Nicht mal einen Tag. Er würde davonfliegen, wie ein roter Ballon, aus seinem Körper und durch seine Kunst hinauf zu den Wolken, wo er platzen würde, wenn Sangna nicht wäre, die Schnur, die unter ihm zur Erde hinunter wirbelt, sich in der Luft ausbreitet wie ein entflochtener Zopf. Sangna wurde von ihrer Familie aus der Rhode Island School of Design herausgerissen und zur Besserung auf die London School of Economics geschickt. Bei einer Vernissage kam sie auf ihn zu: »Mr Sai, ich bin Sangna. Ich habe einen Abschluss in Betriebswirtschaft, und ich kann Farbe mischen.« Er war sechsundzwanzig, jung, das Geld neu, das Geld fremd, genau wie der Ruhm und die Welt. Sie war dreißig, sah aus wie zwanzig, der lange Zopf und die Brille, so dünn und braun wie er als Kind war, geerdet, Bodenhaftung gebend, knappe Sprechweise, Gujarati, nüchtern; die Händler hatten allesamt Angst vor ihr, worüber sie beide lachen mussten, während sie in seiner Wohnung auf dem Fußboden saßen, wo sie oft ihr Essen zu sich nahmen,
Aloo gobi
und Chapati, von Sangnas Tanten gebacken. Sangna, die eine Woche nach New York geflogen war, auf den Hinweis eines Käufers hin, »dort steht ein Lagerhaus zum Verkauf«: Sie fuhr nach Greenpoint mit Bargeld, verbrachte eine Stunde mit Hristo, handelte den Preis um ein paar tausend Dollar herunter und kaufte ihm ein Zuhause – und an einem frühen Oktobermorgen rief sie ihn dann von London an, »Ich hab sie gefunden«,

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