Diese eine Woche im November (German Edition)
Schusslinie heraushalten. Wenn diese Leute wittern, dass sie etwas weiß, werden sie nicht zögern, alles aus ihr herauszupressen. Egal wie.
» Ich verdammter, leichtsinniger Idiot « , murmelt Herbert. Warum hat er sie nicht in Düsseldorf gelassen? Wenn ihr etwas passieren sollte, verzeiht er sich das für den Rest seines Lebens nicht. Er ist Polizist. Er wurde für so etwas ausgebildet, aber wie konnte er sein Mädchen in diese Lage bringen? Insgeheim gesteht er sich ein, dass kein Training ihn auf diese Situation hätte vorbereiten können.
Sechs Schritte zur Tür. Eine Flucht war unmöglich. Man hatte sie mit der Pistole ins Boot gezwungen und sie sofort unter Deck gebracht, damit sie den Wasserweg nicht mitverfolgen konnten. Beim Aussteigen, während der wenigen Schritte in das dunkle Gebäude, hätte Herbert vielleicht ins Wasser springen und im Schutz der Nacht entkommen können. Mit Julia an seiner Seite war das nicht möglich. Er trägt die Verantwortung, er hat versagt. Nicht auszudenken, wie Julias Mutter reagieren wird, wenn er ihr die Wahrheit gesteht. Wenn er jemals Gelegenheit dazu bekommen sollte, es ihr oder irgendjemandem zu erzählen. Die Chancen stehen schlecht, das weiß Herbert. Am Ende vieler Geiselnahmen steht der Tod, statistisch gesehen. Die Täter haben Angst vor Zeugen und bringen sie zum Schweigen.
Eine winzige Bewegung auf dem Bett. Schon ist er an Julias Seite. Das Lächeln, mit dem der Schlaf sie entlässt, erlischt sofort, als sie die Umgebung wiedererkennt.
» Ich habe Hunger. « Ihre Stimme klingt angekratzt. Die Kälte, die Feuchtigkeit, wenn sie nur nicht krank wird.
Herbert geht zum Tisch und nimmt die Kekspackung. Es sind nur noch Bruchstücke drin. Auch die Wasserflasche haben sie leer getrunken. Er gibt Julia die Krümel. Der Kerl, der wie ein Bullterrier aussieht, brachte ihnen die karge Ration, das muss Stunden her sein. Ist es Nacht, schon wieder Tag? Die Handys hat man ihnen weggenommen.
» Über den Service in diesem Hotel werde ich mich beschweren. « Julia kaut. Die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Mit gebeugten Schultern setzt sich Herbert neben sie. » Es tut mir so schrecklich leid. Mein Beruf bringt manchmal Dinge mit sich, die ziemlich unschön sind. «
» Das weiß ich, Papa. Ich bin kein Kind mehr. «
Das ist es, was Herbert am meisten fürchtet. Julia ist kein Kind mehr und sie werden sie auch nicht wie ein Kind behandeln. Julia ist nicht so cool, wie sie sich gibt. Hinter der toughen Großstadtpflanze versteckt sich ein feinfühliges Naturell. Sie hält mich für langweilig und spießig, denkt Herbert, und doch hat sie eine Menge von mir geerbt. Julia glaubt an Gerechtigkeit und daran, dass das Recht zu guter Letzt siegt. Er seufzt. 20 Jahre im Polizeidienst haben ihn gelehrt, dass die zarte Pflanze der Gerechtigkeit oft vom Unkraut der Gemeinheit überwuchert wird. Julia glaubt an Regeln. Was wird sie tun, wenn alle Regeln zerbrechen, wenn die Gewalt regiert, das Chaos?
Herbert legt die Hand auf ihre Schulter. » Bitte verzeih mir. « Seit seine Tochter eine junge Frau geworden ist, vermeidet er solche Berührungen meistens. Sie zögert kurz, dann sinkt sie an seine Brust. Lautlos, ohne Tränen, weint sie. Sie ahnt inzwischen, dass Herbert nicht zum Vergnügen nach Venedig gefahren ist. Von dem Juwelenraub und den Vermutungen des italienischen Commissario weiß sie nichts.
» Wie lange wird es noch dauern? « , flüstert sie.
» Dass sie uns eingesperrt haben, bedeutet wahrscheinlich, dass wir es noch eine Weile aushalten müssen. «
Die Ausweglosigkeit macht Julia wütend. Sie springt auf und läuft zur Tür. Sie rüttelt daran und tritt dagegen. » Was war das früher, ein Keller? «
» In einer Stadt, die auf Wasser gebaut ist, gibt es keine Keller. «
Als Julia beim Türschloss kein Glück hat, versucht sie es an den Scharnieren. » Vielleicht haben hier früher mal die Dienstboten gehaust! « Wieder und wieder tritt sie zu. Die Tür bewegt sich keinen Millimeter. Keuchend gibt sie auf. Ihr Blick fällt auf das zugemauerte Fenster. » Ob da draußen das Wasser steht? «
Herbert legt die Hand an die Mauer. » Wahrscheinlich nicht. Die Wand müsste sonst feuchter sein. «
Plötzlich muss Julia lachen.
» Was ist? «
» Du wolltest möglichst viel von Venedig sehen. Das ist bestimmt das ungewöhnlichste Touristenprogramm, das es gibt! « Julias Lachen klingt verzweifelt.
***
Eine Gondel gleitet durch das unterirdische Gewölbe.
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