Diese eine Woche im November (German Edition)
Ein Mann bedient das Ruder, der zweite steht vor ihm, eine Taschenlampe in der Hand. Die Gondel nähert sich einer Steinstufe, dahinter erkennt man eine Eisentür. Sandro fährt das Boot längsseits heran, springt hinaus und vertäut es. Der andere, ein Mann in scharlachrotem Umhang, steigt aus. Eine venezianische Maske verhüllt sein Gesicht. Sandro sperrt die Tür auf und drückt sie nach innen.
Mitten im Lachen dreht Julia sich um. Sie ist erschöpft, hungrig und voll Angst. Doch so viel Angst hat sie noch nicht, dass ihr der Irrwitz dieses Auftritts keinen neuen Mut gibt. Dort steht ein maskierter Mann im bodenlangen Mantel, dahinter schaukelt eine Gondel im Wasser.
» Haben wir schon Karneval? « , fragt sie frech.
» Sei still. « Ihr Vater stellt sich schützend vor sie. » Wo sind wir? « , fragt er in holprigem Italienisch. Julia ist zuversichtlich, dass er weiß, was zu tun ist. Das Wichtigste in einer solchen Situation sei es, ein sachliches Gesprächsklima aufzubauen, hat er ihr einmal erzählt. Keine Emotionen zeigen, lautet die erste Regel im Umgang mit Geiselnehmern.
» Ihr seid hier zu Gast « , sagt der Kerl mit den schwarzen Handschuhen.
» Seit wann werden Gäste eingesperrt? « , fragt Julia.
Ein strenger Blick ihres Vaters. » Weshalb haben Sie uns entführt? Was sind Ihre Forderungen? « Er nickt Julia zu, sie soll übersetzen.
» Das werdet ihr rechtzeitig erfahren « , antwortet Sandro.
Julia zeigt auf den anderen Mann. » Was soll der Mummenschanz? « Sie sollte besser ihren Mund halten, und das weiß sie. Aber es ist die einzige Möglichkeit, ihrer Angst Herr zu werden.
Statt einer Antwort stellt Sandro einen Korb auf den Campingtisch. » Ihr werdet Hunger haben. « Seine Stimme klingt hohl in dem steinernen Raum.
Julia will den Korb öffnen, doch ihr Vater hindert sie daran. » Ich verlange, dass meine Tochter freigelassen wird. «
» Weshalb? « , fragt sie ihn, bevor sie übersetzt. » Weshalb nur ich? «
» Weil du nichts weißt. Das ist auch gut so. Du darfst in die Sache nicht hineingezogen werden. « Zu Sandro sagt er: » Ich verlange, dass ihr sie laufen lasst. Danach können wir reden. «
» Sie verlangen? « Es ist das erste Wort, das der Mann mit der Maske spricht.
» Mich wollten Sie entführen, nicht wahr, nur mich? « Herbert tritt auf ihn zu. » Von meiner Tochter wollen Sie nichts. «
Julia starrt ihren Vater mit wachsender Verblüffung an. » Weshalb sollte man dich entführen, Papa? «
» Übersetz das « , antwortet er streng.
» Wir können sie nicht freilassen « , entgegnet Sandro.
Herberts Nerven sind zum Zerreißen gespannt, das sieht Julia. Für einen Augenblick verliert er die Beherrschung. » Glaubt ihr wirklich, ihr kommt damit durch? Commissario Gianfranco weiß alles! «
» Commissario – wer? « , fragt Julia auf Deutsch dazwischen.
» Ich zweifle daran, dass der Commissario hier auftaucht « , antwortet Sandro. » Dass er überhaupt noch irgendwo auftaucht. «
Eine Geste des Maskierten bringt ihn zum Schweigen. Der Mann tritt an den Hauptkommissar heran. Julia sieht seine schwarzen Augen hinter der Maske. » Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen, was Gianfranco Ihnen anvertraut hat? «
Herbert kombiniert. Die Verbrecher haben den Commissario zum Schweigen gebracht. Trotzdem können sie nicht sicher sein, ob seine Informationen aus der Questura hinausgelangten. Herbert hätte, bevor man ihn entführte, seine eigene Dienststelle informieren können.
» Düsseldorf weiß Bescheid « , antwortet er daher. » Und damit Interpol. « Als keiner der beiden antwortet, lässt Herbert einen Probeballon steigen. » Ich kenne das Emblem der Trucidi. «
Wieder starrt ihn Julia an. » Trucidi – was ist das? «
» Übersetze das, Wort für Wort: Ich habe das Diadem auf dem Wappenschild gesehen. Das Bild erreicht mittlerweile die Polizeidienststellen in ganz Europa. «
Der Mann im Umhang richtet die Taschenlampe auf Herbert. » Ich glaube, dass Sie lügen. Doch wie Sie sehen, könnte es noch von Nutzen sein, dass ich Ihre Tochter in meiner Gewalt habe. « Eine Geste auf den Korb. » Ich wünsche guten Appetit. « Mit wenigen Schritten verlässt er den Raum und steigt in die Gondel.
» Sie können uns nicht hierlassen! « , ruft Julia unbeherrscht. » Es ist kalt und nass! «
Sandro folgt seinem Herrn. Die Tür fällt zu, das Schloss rastet ein.
» Oh Gott, Papa, was hat das Ganze zu bedeuten? « Sie sinkt aufs Bett.
Herberts Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher