Diese eine Woche im November (German Edition)
Überwachungskamera. » Können wir Signora da Silva sprechen? « , fragt Pippa.
» Wer seid ihr? «
Sie dreht sich zu Tonio. Er beugt sich vor das Mikrofon. » Wir machen uns Sorgen um Franco. «
Die Kamera schwenkt nach rechts, nach links. Keine Antwort.
» Die Signora ist nicht da. « Es knackt in der Gegensprechanlage. Im Hintergrund hört man eine zweite Stimme.
» Hallo? « , fragt Pippa.
» Was machen wir, wenn die die Polizei rufen? « Tonio sieht sich nach einem Fluchtweg um.
Plötzlich ein metallisches Summen, das Tor geht auf. Sie betreten einen Garten, der während der warmen Jahreszeit ein Paradies sein dürfte. Gesäumt von Beeten, führt ein Steinweg in Windungen zum Haus. Tonio bleibt stehen. Wer sagt ihnen, dass der Typ mit den schwarzen Handschuhen nicht längst in der Villa ist?
» Worauf wartest du? « Pippa erreicht das Haus.
Also schön, für Julia, denkt Tonio und läuft ihr nach. Seine Schritte knirschen im Kies. Nicht die Eingangstür öffnet sich, sondern eine Pforte daneben, durch die wuchernden Heckenrosen beinahe unsichtbar. Ein kahlköpfiger Mann taucht auf. Er trägt einen ausgebeulten Anzug, darunter eine Wollweste.
» Seid ihr bewaffnet? «
Wenn die mit einem bewaffneten Überfall rechnen, wird das kein Höflichkeitsbesuch, denkt Tonio.
» Bewaffnet? « , antwortet Pippa überrascht.
» Na egal. Ihr habt uns gefunden. Das sagt wohl alles. «
Beim Näherkommen bemerkt Tonio den Ausdruck im Gesicht des Mannes: Es ist die pure Verzweiflung. Der Alte führt sie eine Treppe nach unten, vom Heizungsraum geht es in den Weinkeller, dann wieder nach oben. Rechts eine Glastür in den Salon, dunkle Möbel, ein brauner Flügel. Ein Korridor, mehrere Türen, durch die letzte kommen sie in die Küche.
Dort sitzt die Familie zu sechst um den Tisch, zwei Frauen, vier Kinder, ein Mädchen trägt eine Wintermütze. Aus einem Topf quillt Wasserdampf. Der kahle Alte, der sie geführt hat, ist der einzige Mann in der Runde.
Die Ankömmlinge starren die Familie an, die Familie starrt auf Pippa und Tonio. Die schöne Frau in der Mitte bricht das Schweigen.
» Wollt ihr Pasta? « Wie Salz und Pfeffer sieht ihr Haar aus, schwarz und weiß.
Auf dem Tisch stehen die Teller vom Mittagessen.
» Sind das Gnocchi alla siciliana? « , fragt Pippa.
» Sind Sie Signora da Silva? « Tonio geht auf sie zu.
Ein Junge von etwa elf Jahren will sich schützend vor die Frau stellen.
» Schon gut, Lino. « Sie nimmt einen Löffel. » Setzt euch. Die Gnocchi sind noch warm. «
Die anderen rücken zur Seite. Pippa rutscht neben eins der Mädchen.
» Ich bin Matilda « , sagt die Kleine.
» Hallo. Ich bin Pippa. «
Die Frau schiebt ihr eine Portion hin. » Und du? « Sie lächelt Tonio an. » Bist wohl nicht hungrig? «
Tonio ist fast immer hungrig. Er zögert, weil das Bild dieser Familie etwas in ihm bewegt. Da sitzen sie um den Tisch, die Alten, die Kleinen, die Frau, zu der sie Mama sagen. Das ist so einfach und natürlich und doch hat Tonio sein ganzes Leben lang vergeblich danach gesucht. Deshalb verflucht er seinen Vater, der ihm das genommen hat. Der alles zerstört hat, seine Ehe, die Gesundheit seiner Frau und Tonios Vertrauen in die Menschen. Wer an einem Tisch wie diesem sitzt und von seiner Mama Pasta aufgetan bekommt, der hat gelernt, dem Leben zu vertrauen. So jung Tonio auch ist, er blickt auf ein Leben in Angst zurück. Er fürchtet ständig, dass das Schlimmste passieren wird. Tagtäglich stellt er sich auf Sturm ein und ist jedes Mal überrascht, wenn nur eine leichte Brise aufkommt.
» Setz dich « , sagt die Frau. Tonio rutscht neben einen sommersprossigen Jungen und streckt die Beine aus. Vor ihm dampft der Teller. Das Mädchen gibt ihm die Schale mit geriebenem Käse.
» Danke. « Tonio isst. Leider sind sie nicht zum Essen gekommen. Sie werden über schreckliche Dinge sprechen müssen.
Die Frau mit dem schwarz-weißen Haar wendet sich an eine Ältere. » Silvana, passt du auf die Kinder auf? «
» Wir wollen dabei sein, Mama « , sagen die Kleinen.
» Kommt, Kinder. « Die Alte öffnet die Tür ins Nebenzimmer.
Die Signora küsst zwei von ihnen auf die Stirn. » Dauert bestimmt nicht lange. «
Vier der Kleinen folgen Silvana. Der Elfjährige bleibt. » Ich höre zu. «
Die Signora und der alte Mann tauschen einen Blick. » Na schön, Lino. «
Die Tür schließt sich, die Erwachsenen und die Besucher sind unter sich.
» Kommt ihr von ihnen? « , fragt Signora da Silva.
Weitere Kostenlose Bücher