Dieser eine Moment (German Edition)
Unglauben, dieses merkwürdige Ausblenden der Wirklichkeit, diese vollkommene Leere in ihm. Er fragt sich, ob Laura recht hat. Ihre Worte, die in ihn eingesickert sind wie Regenwasser in einen ausgetrockneten Lehmboden.
Vielleicht hätte er sie einfach nur um Verzeihung bitten sollen, er kann nicht sagen, warum er es nicht getan hat. Er ist einfach nicht auf die Idee gekommen.
19
Die Reihen sind bis auf die letzten Plätze gefüllt. Eltern, Großeltern, Geschwister. Erwartungsvolle Gesichter vor holzgetäfelten Wänden. Die Leiterin der Ballettschule hat für die Aufführung die Aula eines Gymnasiums gemietet. Klappsitze, die mit blauem Stoff bezogen sind. Es riecht nach Staub und Bohnerwachs und der Feuchtigkeit hereingetragenen Schnees.
Die Finger seines Vaters trommeln ungeduldig auf das Deckblatt des Programmheftes: Ausschnitte aus Tschaikowskys Nussknacker . Darunter die Abbildung eines Nussknackers in roter Uniform mit weißem Bart, eine Farbkopie, unscharf, an den Rändern verschwommen.
»Möchte mal wissen, was das soll«, sagt er.
»Was denn?«, fragt Jan.
»Was denkt sie sich dabei?« Sein Vater hasst es zu warten. Er nimmt das persönlich.
Jan sieht seine Mutter, wie sie sich mühsam durch die Sitzreihen kämpft, vorbei an eingezogenen Füßen und zur Seite gedrehten Knien. Sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen und eine dunkle Strumpfhose. Auf ihrem geschminkten Gesicht Anspannung, verborgen hinter der Behauptung eines Lächelns.
»Wo warst du denn so lange?«, fragt sein Vater, als sie den freien Sitz neben ihm herunterklappt. Sie tupft sich mit der Hand über die Stirn, der Schweiß auf ihren Fingerkuppen glänzt.
»Steck du mal so vielen Mädchen die Haare hoch«, sagt sie und winkt fahrig einer Frau zu, die ein paar Reihen hinter ihr sitzt.
»Dann muss man das eben besser organisieren«, sagt sein Vater.
»Die hätten das alleine nicht geschafft!«
»Ich hab für das hier extra früher Schluss gemacht.«
»Jetzt hör schon auf. Bitte!«
Immer diese Geplänkel, denkt Jan, zermürbend und sinnlos. Sein unzufriedener Vater, seine ausgleichende Mutter. Das ewig gleiche Schauspiel mit ewig wiederkehrenden Dialogen. Er ist groß geworden damit. Sein Elternhaus das Theater, der Abendbrottisch die Bühne. Der Ort, an dem sein Vater seit Jahren seine Siege und Niederlagen verkündet und das Maß seiner Aufopferung. Für seine Frau, für seine Kinder. Der Brotkorb, das Gurkenglas, die Platte mit der Wurst. Hart gekochte Eier, in Scheiben geschnitten. Sein Ärger über die Zahlungsmoral säumiger Kunden, seine Euphorie, wenn er einen Mitbewerber ausgestochen und einen neuen Auftraggeber gewonnen hat. Das Leben ein Kampf, mit ihm an vorderster Front. Nur um am Ende des Tages ein Wurstbrot mit Eierscheiben und Gewürzgurken zu belegen und sich laut zu fragen: »Wofür das alles?«
Die Wochenenden an der Schlei sind nur deswegen so entspannend, weil die Rollen andere sind. Das Vorspielen von Harmonie, das abendliche Grillen mit den Standplatznachbarn. Eine Partie Doppelkopf, der Austausch von politischen Küchenweisheiten. Die Illusion eines kleinen Glücks, Waffenstillstand am fließenden Gewässer.
Seine Mutter schaut ihn verstohlen an, er lächelt ihr zu. Der Versuch, ihr das Gefühl zu geben, alles sei in Ordnung. Sie ist es gewöhnt, sich mit den Trugbildern zufriedenzugeben.
Es wird dunkel im Saal, auf der Bühne erscheint die Leiterin der Ballettschule. Sie preist den Fleiß ihrer Schülerinnen, lobt das Engagement der Eltern, bedankt sich für die Hilfe beim Zustandekommen der Aufführung.
Die Finger seiner Mutter spielen mit ihrem Ehering. Sie ist aufgeregt, zum ersten Mal wird sie Maja auf einer Bühne sehen. Sein Vater, vergraben in seine schlechte Laune, trommelt noch immer mit den Fingern auf das Programmheft.
Ich kenne dich nicht, denkt Jan, ich weiß nicht, wer du bist. So wenig, wie er seine Mutter kennt, die ihn in ihren Armen gewiegt hat als Kind, die ihm Gutenachtgeschichten vorgelesen und ihm beim Ausradieren fehlerhafter Hausaufgaben geholfen hat. Nicht einmal sich selbst kennt er, diesen hageren Kerl, der zu feige ist, sich zu seiner Schuld zu bekennen. Was er sieht, sind nur Ahnungen, was er fühlt, Vermutungen. Was er in Worte fasst, sind nur Vorstellungen, Ideen, die ihr Gegenteil in sich bergen, Versuche ohne Gültigkeit.
Endlich ertönt Musik. Die Lautsprecher rauschen, die Anlage müsste dringend erneuert werden. Der Vorhang öffnet sich, auf der Bühne ein Bett.
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