Dieser eine Moment (German Edition)
Darin ein kleines Mädchen, Clara, die einen Nussknacker im Arm hält, den ihr Onkel ihr am Weihnachtsabend geschenkt hat. Clara schließt ihre Augen und beginnt zu träumen und in ihrem Traum verwandelt sich die hölzerne Figur in einen Märchenprinzen, der sie in eine fremde Welt entführt ...
Das Licht verändert sich, genau wie die Musik. Eine Handvoll Schülerinnen trippelt auf die Bühne, in altmodischen, mit Bändern geschmückten Kleidern. Die Rücken durchgedrückt, die Beine gestreckt, tanzen sie eine Art Menuett, im rührenden Bestreben, echte Ballerinas nachzuahmen und einer Choreografie zu folgen, die sie sichtlich überfordert.
Sein Vater schlägt das Programmheft auf, dreht es so, dass Licht von der Bühne darauffällt, die Seiten knistern beim Umblättern, der Sitz unter ihm knarrt.
»Bitte, Schatz«, flüstert Jans Mutter. Jan fragt sich, warum sie ihren Mann nach all den Jahren noch immer so nennt.
»Was denn?«, gibt sein Vater gereizt zurück.
Keine Minute später fragt er: »Wann kommt sie denn endlich?«
»Jetzt reicht’s aber«, zischt eine Frau hinter ihnen.
Ein paar Tänze später ist es so weit. Maja, seine Maja. Eine Schneeflocke in einem weißen Tüllrock mit Seidenschleife, in den hochgesteckten Haaren eine kleine Krone, das Gesicht vor Aufregung und Vorfreude gerötet.
Er sieht, wie seine Mutter nach der Hand seines Vaters greift. In ihren Augen blitzen Tränen auf, Brillanten aus Freude, Diamanten aus Stolz. Als würde sich in diesem Moment endlich etwas für sie erfüllen, auf das sie lange gewartet hat. Sein Vater dagegen wirkt angestrengt und starr. Seine Augen folgen keinem Tanz, sondern einem Wettkampf, den seine Tochter, die gegen seinen Willen auf die Welt gekommen ist, gefälligst zu gewinnen hat.
Jan muss lächeln, als er Maja sieht, wie sie sich inmitten der anderen Schneeflocken bewegt in ihrer kindlichen Einfalt, einem geheimen Plan folgend, der ihm verschlossen ist, mit einer Ernsthaftigkeit, um die er sie beneidet. Das überwältigende Glück im Gesicht seiner Schwester. Dieses vollkommene Aufgehen in dem, was sie tut. An diesem Ort, in diesem Moment. Bis sich bei einem der anderen Mädchen die Schleife löst, die ihren Tüllrock hält. Der Rock beginnt zu rutschen, das Mädchen merkt nichts davon. Aber Maja sieht es und läuft auf sie zu, ihre Tanzschritte unterbrechend, um zu verhindern, dass sie ihren Rock endgültig verliert. Doch die andere sieht in Majas Auftauchen nur eine Störung des Tanzes. Genau in dem Augenblick, in dem Maja die Hand auf die lose Schleife legt, dreht sie sich von ihr weg, die Schleife löst sich endgültig, und ohne es zu wollen, hält Maja den Rock in ihren Händen.
»Was macht sie denn da?«, fragt Jans Vater laut und völlig sinnlos, jeder kann sehen, was sie da macht. Dass sie nur versucht hat, der anderen zu helfen. Trotzdem lassen die Worte seines Vaters Jan zusammenzucken, wegen ihres Tons, in dem der Vorwurf des Ungenügens liegt und das peinliche Berührtsein über das Verhalten des eigenen Kindes. Dieser Ton, der Jan schon sein ganzes Leben begleitet, den er erst am eigenen Leib erdulden und, was noch schlimmer war, später an seine Schwester abtreten musste, ohne sie davor bewahren zu können.
»Sie wollte ihr doch nur helfen«, flüstert Jan seinem Vater zu, während das Publikum zu lachen beginnt.
Sein Vater reagiert nicht. Seine Miene ist wie versteinert, seine Hände sind geballt, sein Rücken ist ein senkrechter Strich. Er glaubt, die Leute lachen seine Tochter aus und damit ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben tut er Jan leid. Er spürt, wie klein sein Vater sich fühlt und ungenügend, ein Mann, der immer viel mehr wollte, als er bekam. Und merkwürdigerweise spürt er neben seinem Mitleid auch so etwas wie Liebe.
Maja hält noch immer den Rock in der Hand. Die andere starrt sie an, Tränen in den Augen, mit den Händen ihre dünnen Beine bedeckend, die in weißen Strumpfhosen stecken. Dann reißt sie Maja den Rock aus der Hand und verschwindet heulend in der Bühnengasse, während Maja inmitten der weitertanzenden Schneeflocken zurückbleibt, verwirrt und beschämt, weil sie nicht einschätzen kann, ob das Publikum über sie lacht oder nur über das, was passiert ist. Erschrocken schaut sie in die Schwärze des Zuschauerraumes, der undurchdringlich bleibt für ihre Augen. Dann wendet sie ihren Kopf zur Seite. Jan kann sehen, wie die Leiterin der Ballettschule ihr aus der Bühnengasse bedeutet weiterzumachen,
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