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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Wortberg
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kann. All das Ungesagte zwischen ihnen, die Missverständnisse, die Fremdheit, die Angst. Was uns ausmacht, denkt er, ist unser Schweigen, die Unfähigkeit, Worte zu finden.
    »Leg nicht auf«, sagt er, »bitte.«
    »Was willst du?«, fragt sie.
    Ihre Stimme klingt gehetzt. Als sei sie auf der Flucht vor ihm, als suche sie nach einer Möglichkeit, ihm zu entkommen. Er merkt, dass sie kurz davor steht, in Tränen auszubrechen. Er kann es ihr nicht verdenken.
    Die kreischenden Möwen über dem Meer kommen ihm in den Sinn, die zusammengeschobenen Strandkörbe, in denen sie sich geliebt haben, der sich dunkel färbende Himmel, an dem ein Unwetter aufzog.
    »Was willst du?«, wiederholt sie ihre Frage.
    »Mit dir reden«, sagt er.
    »Worüber?«
    »Über das, was Dario dir erzählt hat.«
    »Was gibt’s da noch zu reden? Ist doch alles klar.«
    »Ist es nicht.«
    »Nein?«
    Sand, der durch seine Finger rieselt, aufziehender Wind, der ihn frösteln lässt unter seinem Mantel aus Schweiß. Wellen, die sich am Strand brechen. Das Wasser, das unter den bleigrauen Sturmwolken seine Farbe wechselt. Es ist jetzt fast schwarz, ein riesiges Grab, die Wellenkämme wie helle Sargdeckel auf dunklem Grund.
    »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagt er. »Ich hab sie nur durch Zufall getroffen. In einem Café, als ich Maja vom Ballettunterricht abgeholt hab.«
    »Zufall«, sagt Laura leise. »Glaubst du das wirklich?«
    In ihrer Stimme liegt so viel Zärtlichkeit und so viel Enttäuschung. Ein Abgrund, an dessen Rand er liegt und ins Dunkel starrt, während aus einer unsichtbaren Tiefe das Echo ihrer Worte zu ihm heraufdringt: »Glaubst du das wirklich?«
    »Ich weiß nicht«, sagt er. »Es macht ja auch keinen Unterschied.«
    »Doch«, sagt Laura, »das tut es.«
    Wieder dieses Schweigen. Ihre Verletztheit, die sich wie ein bleierner Gürtel um seine Brust legt. Er schaut auf die Straße vor sich. Der Weg zur Ballettaufführung seiner Schwester. Es hat angefangen zu schneien. Kleine, feste Flocken, die sich auf die Zweige der kahlen Bäume legen, auf die Häuser, die Autos, auf ihn selbst.
    »Das ging von ihr aus in diesem Café«, sagt er. »Ich hätte sie nicht angesprochen.«
    »Versuchst du, dich zu rechtfertigen?«
    »Ich will nur, dass du weißt, wie es war.«
    »Das macht dann echt keinen Unterschied«, sagt sie.
    Er merkt, wie ihm das Gespräch entgleitet. Er begreift, dass er ihr nichts anzubieten hat, weil alles, was er sagt, für sie wie eine Ausflucht klingen muss.
    »Und weiter?«, fragt Laura.
    »Was weiter?«
    »Du hast sie doch garantiert wiedergetroffen.«
    »Ja«, sagt er zögernd.
    »Und? War das auch Zufall?«
    »Nein«, sagt er.
    »Und deine kleine Schwester war auch nicht dabei.«
    »Nein«, sagt er.
    »Es ging also von dir aus.«
    »Ja«, sagt er.
    »Dabei hast du eben gesagt, du hättest sie nicht von dir aus angesprochen.«
    »Ich wollte sie wiedersehen, um ihr zu sagen, wer ich bin.«
    »Warum? Um dein Gewissen zu erleichtern?«
    »Ja.«
    »Und? Hast du’s ihr gesagt?«
    »Nein.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil ich es nicht über mich gebracht habe.«
    »Stattdessen hast du dich an einer Straßenecke von ihr abfummeln lassen. Von der Frau, die du blind gemacht hast.«
    »Sie hat mich gebeten, sie nach Hause zu bringen. Sie wollte nur wissen, wie ich aussehe.«
    »Wissen, wie du aussiehst«, wiederholt Laura.
    Er kann den Unglauben aus ihren Worten heraushören, die Fassungslosigkeit über das, was ihr wie eine große, unbegreifliche Lügengeschichte vorkommen muss.
    »Und dann hat sie dich geküsst«, sagt sie leise.
    »Nein«, sagt er erschrocken, »hat sie nicht.«
    »Nein?«
    »Nein!«
    »Ach, dann hat Dario sich das sicher ausgedacht.«
    Ja, denkt Jan, hat er. Aber das kann er ihr nicht sagen, weil sie es ihm nicht glauben wird, weil sie es nur für eine weitere Lüge halten wird. Sie hört, was sie hören will. Und er kann ihr nicht klarmachen, was er ihr erklären will. Seine Worte sind verbraucht, seine Sätze klingen hohl, er ist angewidert von sich selbst. Es war falsch, sie anzurufen. Er hat sich damit selbst verurteilt.
    »Ich frage mich, was in dir vorgeht«, sagt Laura. »Erst betrügst du mich, dann betrügst du sie, und schließlich auch noch dich selbst.«
    Er hört, wie sie auflegt. Er verharrt reglos, sekundenlang, sein Handy noch immer am Ohr, als sei er weiter mit ihr verbunden. Er fühlt sich an den Moment des Unfalls erinnert, er weiß nicht, wieso. Diese Mischung aus Erstaunen und

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