Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
nur durch diese äußerst knappen Angaben auf dem Grabstein ein Andenken bewahrt wurde? Hatten sie ein gutes Leben gehabt? Was war das, was ist das überhaupt, ein gutes Leben?, frage ich mich dann immer wieder.
Eine Woche später fand ich eine E-Mail des ambulanten Lazarus-Hospizdienstes in meinem Posteingang: Ich war für einen Ausbildungskurs angenommen. Es überkam mich ein mulmiges Gefühl. War das nicht doch ein bisschen unheimlich? Konnte ich das überhaupt, Menschen bis zu ihrem Tod begleiten? Hinzu kam: Der Kurs würde länger als ein halbes Jahr dauern, und er würde an Wochenenden und am frühen Abend stattfinden. Das aber waren genau die Zeiten, die felsenfest für meine noch recht kleinen Kinder reserviert sind.
Noch kann ich da raus, dachte ich. Noch kann ich sagen, dass ich es mir anders überlegt hätte, dass es von den Terminen her leider nicht passen würde, dass ich mich am Wochenende um meine Familie kümmern müsse und so weiter. An möglichen Ausreden mangelte es nicht. Ein Rückzieher wäre einfach. Nach dreimaligem Überschlafen aber hatte ich mich entschlossen. Ich würde es tun.
Die Ausbildung
Ob es dort einen guten Kaffee geben würde? Oder nur Tee, weil die Teilnehmer typmäßig eher in Richtung » Grüner-Tee-Trinker« gehen würden? Immer, wenn ich mit meiner Cappuccino-Tasse in der Hand auf Grüner-Tee-Trinker treffe, beschleicht mich unterschwellig ein leicht schlechtes Gewissen. Dann habe ich immer das Gefühl, zu genussorientiert zu sein und ein ungesundes Getränk zu mir zu nehmen, statt wohltuenden Tee zu trinken.
Um diesbezüglich lieber gar nicht erst aufzufallen, hatte ich meinen Coffee-to-go-Becher noch vor dem Haupteingang des Berliner Lazarus-Hospizes auf der Bernauer Straße ausgetrunken. Genau dort, wo früher die Mauer entlanglief. Die Mauer, als es sie noch gab, war sterbenden Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens sicher egal, dachte ich, und auch heute war es ihnen in den letzten Tagen ihres Lebens bestimmt gleichgültig, ob sie noch stand oder nicht. Jetzt bloß nicht so rumphilosophieren, ermahnte ich mich. Ich versenkte den Pappbecher im Mülleimer und schritt mit leichtem Herzklopfen in den angegebenen Raum im ersten Stock. Um zu dem Ausbildungsraum zu gelangen, musste ich durch das Hospiz gehen. Vor einer Tür brannte eine Kerze, hier war also gerade jemand verstorben. Stille.
Was waren die letzten Worte, die in diesem Zimmer gesprochen wurden? Würde ich die Kraft haben, das auszuhalten, mit Sterbenden zusammen zu sein, bis zu ihrem letzten Atemzug? Menschen, die gerade noch etwas gesagt, gefragt, erbeten haben, deren Hand ich gerade noch hielt– und die schon kurz darauf einfach nicht mehr sind? Konnte ich ihnen wirklich etwas geben?
Mit diesen Fragen im Kopf erreichte ich den Kurs-Raum. Es waren schon einige Teilnehmer da; nicht ganz überraschend mehr Frauen als Männer. Wir waren insgesamt neun Kursteilnehmer und zwei Ausbilderinnen. Lauter unterschiedliche Gesichter, lauter unterschiedliche Gründe wohl, sich für die Hospizarbeit zu interessieren.
Der Kurs wurde mit einer » Befindlichkeitsrunde« eröffnet. Einer nach dem anderen mussten wir einen Stein in die Hand nehmen und sagen, wie es uns in diesem Moment ging. So etwas hatte ich bis dahin noch nie gemacht. Weil ich aus einer Welt komme, in der nicht nach Befindlichkeiten gefragt wird. Das Wort » befindlich« war mir vielmehr bislang nur in einem negativen Kontext begegnet – so im Sinne von » Geh mir jetzt nicht auf die Nerven mit deiner Stimmung« und » Stell dich bloß nicht so an«. Entsprechend unsicher war ich also, wie ich mit dieser Frage umgehen sollte. Wie einige andere auch, antwortete ich ganz ehrlich: » Das ist Neuland hier. Ich bin gespannt, was in diesem Kurs passiert und muss gestehen, dass ich auch etwas aufgeregt bin.« Zunächst fragte ich mich, ob das Feststellen der Befindlichkeiten aller Kursteilnehmer nicht banaler Psychokram wäre. Dann stellte ich aber fest, dass es nicht schlecht ist, wenn jeder am Anfang und auch am Ende eines Kurstages sagt, wie es ihm gerade geht. Denn damit wird sofort eine vertrautere Atmosphäre geschaffen, und die Unsicherheit den anderen Teilnehmern gegenüber schwindet. Auch kann man den anderen achtsamer begegnen, wenn man weiß, wie sie sich gerade fühlen.
Im weiteren Verlauf zeigte sich sehr schnell, dass die Ausbildung nicht besonders theoretisch, sondern primär praxisorientiert sein würde. Es ging darum, uns Teilnehmer
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