Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
kommt.« Ich musste schmunzeln. » Eigentlich hätte sie gerne noch kreativ gearbeitet, weil sie darin die höchstmögliche Freiheit vermutete, sich ausdrücken zu können, und vielleicht hätte das ja auch noch geklappt, hätte sie doch nur weiterleben dürfen…« Dann erschrak ich. Ich, die Konjunktiv-Hasserin, die immer überzeugt gewesen war, dass sich, bewusst oder unbewusst, hinter Konjunktiven nur Angst und Unsicherheit versteckten, schrieb plötzlich Sätze mit Wörtern wie » hätte«, » wäre«, » würde«? Ich, die den Werbeslogan » Just do it« der Sportmarke Nike als Lebensphilosophie übernommen hatte. Und gerade eben nicht » Had I only«. Und was machte ich jetzt hier inmitten dieser Übung, viele Jahre später? Ich machte genau das, was ich stets verachtet hatte. Schrieb mein halbes Leben im Konjunktiv auf. Versteckte meine Ängste dahinter.
Anschließend musste jeder Kursteilnehmer seinen Nachruf auf sich selbst in der Runde vorlesen. Das war für mich der intensivste Moment des ganzen halbjährigen Kurses, ein Schlüsselerlebnis. Es war extrem unangenehm. Wie ein Seelen-Striptease. Wie ein narzisstischer Akt von Exhibitionismus. Und irgendwie peinlich. Zu gerne hätte ich meinen Nachruf schnell in die Tasche und zu Hause in eine Schublade gesteckt. Hatte ich nicht etwas übertrieben, was ich alles Großartiges erlebt und verändert hatte? War ich wirklich eine gute Mutter? Hatte ich andererseits an manchen Stellen nicht auch das reflexhafte Understatement zu weit getrieben, mein Licht unter den Scheffel gestellt und war mir so genauso wenig gerecht geworden? Nie zuvor in meinem Leben war mir so klar geworden, wie schwer es ist, sich selbst zu beurteilen. So viele Menschen hatte ich im Beruf beurteilt, hatte ihnen Zeugnisse ausgestellt und ihre Leistungen bewertet– aber mich selbst?
Erst später verstand ich, dass es beim Rückblick am Lebensende nicht so sehr um ein Urteil geht. Sondern darum, sein Leben so anzunehmen, wie es war. Ohne zu werten. Eine ziemlich schwierige Aufgabe. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ein Rückblick auf ein abgelaufenes Leben ohne Wertung auskommt bzw. auskommen sollte. Denn was spricht dagegen, es zum Beispiel als pures Glück zu werten, dass man mit einem Hauptschulabschluss gut durchs Leben gekommen ist?
Dieses Nachrufschreiben am Ende des halbjährigen Kurses hatte es in sich. Nie zuvor war ich so direkt und radikal mit der Frage konfrontiert worden, was mir wichtig war in meinem Leben. Ich musste seitdem immer wieder an diese Übung denken. Und sie hat mich schließlich auf den Gedanken zu diesem Buch gebracht.
Gespräche mit Sterbenden: »Dieser Mensch war ich«
Wie wäre es, begann ich mich zu fragen, wenn Menschen, die wissen, dass sie am Ende ihres Lebens stehen, mir ihren eigenen Nachruf diktierten? Wenn diese Übung im Sterbebegleitungskurs also keine in Gedanken durchgespielte Vorübung mehr wäre, sondern Wirklichkeit? Würde es den Menschen nicht auch helfen, ein ehrliches Andenken zu bewahren? Könnten sie auf diese Weise nicht selbst darüber bestimmen, wie sie in Erinnerung bleiben wollen, was sie über ihr Leben im Rückblick denken? Und auf diesem Weg möglicherweise ihren Hinterbliebenen noch Dinge mitteilen, weil sie es zu Lebzeiten nicht konnten– aus Scham, aus Furcht oder aus unerwiderter Liebe. Warum sollte nicht, wer mochte, sich am Lebensende mit seinen ganz eigenen Gedanken selbst gerecht werden?
Wie oft erlebt man schließlich auf Beerdigungen, dass während der Trauerfeier irgendwelche Dinge gesagt werden, nur weil eben irgendetwas von irgendjemandem gesagt werden muss. Wie oft bekommt man Worte zu hören, die nicht ansatzweise dem Verstorbenen gerecht werden. Wie oft ist das Gesagte verkürzt, unzutreffend, nicht selten geheuchelt. Ist das nicht ausgesprochen würdelos? Wie viel besser wäre es, einfach zu schweigen, denke ich mir dann. Der Würde zuliebe. Oder aber etwas vorzutragen, das der oder die Verstorbene selbst aufgezeichnet hat. Das wäre von einer ergreifenden Echtheit. Es müsste ja kein Nachruf im eigentlichen Sinne sein– ein Rückblick auf das eigene Leben reichte ja schon. Dies entspräche dann auch einer ehrlicheren und würdigeren Begräbniskultur. Auf eine bestimmte Art könnten Hinterbliebene unverklärter trauern– oder auch nicht.
Auch in den Todesanzeigen, die täglich in regionalen und überregionalen Zeitungen zu lesen sind, findet sich ja nichts über den Menschen selbst. Unter dem Namen des
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