Dieses Buch gehört meiner Mutter
war die Mutter, die dazu schwieg.
Natürlich hätte er neinsagen können.
Aber er sollte einmal den Hof übernehmen,
und das erste Gebot für künftige Bauern hieß:
steinhart sein gegen sich selber.
[90] Er war immer so heikel am Kopf.
Er zuckte zurück, wenn ich ihn
zärtlich am Haarschopf packte.
»Hansl, sei ehrlich, hast wen getötet im Krieg.«
Ich war sicher, daß er mich nicht belog,
als er sagte: »Wissentlich nur einmal.«
Ein Bombentrichter, in den er rutschte,
in dem einer lag mit aufgerissener Brust.
Mein Bruder, wie er sein Hemd in Streifen riß,
für einen Notverband. Wie er sich bückte,
wie der andere plötzlich das Messer zog.
»Ich war schneller. Das reut mich.«
Bei seinem letzten Heimaturlaub,
als ich ihn ein Stück weit begleitete,
blieb er auf der Anhöhe stehen,
um einen Blick auf das Dorf zu werfen,
»den ganz allerletzten«, wie er sagte.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Ich war in Versuchung, ihn wie dazumal
am heiklen Haarschopf zu packen.
Dann kam noch ein Brief an die Mutter,
zwei Monate nach dem Muttertag.
»Liebste Mutter! Heute an Deinem Ehrentage…«
Bald darauf die Verständigung, beigelegt
ein verbogenes eisernes Kreuz am Band,
dunkelgefleckt von seinem oder anderem Blut.
Der Vater versteckte es auf dem Dachboden
[91] im hintersten Winkel, wo es die Russen dann fanden.
Ihm war die Nachricht zu Herzen gegangen.
Aber meine Mutter hatte trockene Augen.
[92] Das Bild, das neben der Küchenuhr hängt.
Sie haben es meiner Tante Anna geschenkt.
Sie hat es rahmen lassen.
Sie hat es mir hinterlassen.
»Zur Erinnerung an die Dienstgeber
Ihrer braven Tochter Anna.
Dr. Adolf Brok u. Frau«
Es half ihm nichts, daß er mit einer Christin verheiratet war.
Es half ihr nichts, daß sie eine war.
Sie läuteten nicht, sie schlugen gleich gegen die Tür.
Zwei Monate später war er tot.
Theresienstadt, 25. November 1942, fünf Uhr früh, Apoplexia.
So steht es geschrieben.
Was dann geschah, steht nirgendwo.
Er im Zweireiher, mit Uhrkette und Krawatte,
sie im dunklen Kostüm mit Ausstellkragen.
Sein weißer Schnurrbart, sein schütteres Haar.
Ihr rundes Gesicht, ihr krauses Haar.
Er schaut ernst. Sie lächelt verschmitzt.
Nie ein lautes Wort, hat meine Tante gesagt.
Nie ein stiller Verdruß.
Sie war wütend, als sie erfuhr:
Ab sofort kein arisches Dienstmädchen mehr
in einem jüdischen Haushalt!
[93] Es war ihr letzter Posten bei einer Herrschaft.
Gleich darauf lernte sie ihren Mann kennen
und half ihm in seinem Malerbetrieb.
Meine Tante besuchte sie einmal die Woche,
zuerst die zwei, dann die Frau,
bis er es ihr verbot, ein für allemal.
Ich weiß nicht mehr, wie sie davon erfuhr.
Vielleicht ist sie heimlich doch hingegangen.
Die Frau nahm Gift.
[94] Es war ein jüdischer Militärarzt,
der ihm im Lazarett das Leben gerettet hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
so ist es gewesen.
Es war ein jüdischer Holzhändler,
der ihn in der schlechten Zeit fast ruiniert hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
die Sache war komplizierter.
Es war ein jüdischer Offizier,
der den Soldaten das Plündern verboten hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
ich kann es bezeugen.
Bei uns im Dorf gab es keine Juden.
Hätte es welche gegeben und dann keine mehr,
müßten wir uns ins Grab hinein noch schämen.
[95] Natürlich wußten es alle. Auch ich,
die lange geleugnet hat, es zu wissen.
Der Wizany Lois kam manchmal
zu meinem Vater und erzählte ihm,
was er in Gusen wieder gesehen hatte.
Ich hörte nur Fetzen ihres Gesprächs,
denn sie unterhielten sich halblaut
und hinter verschlossener Kellertür.
»Vetter, sie… Sogar… Noch die Kinder!«
Die nächsten paar Sätze unverständlich.
Langes Schweigen. Die rauhe Stimme
meines Vaters: »Dann gnade uns Gott.«
Im letzten Kriegswinter ging eine Meldung
beim Gendarmerieposten ein:
Wachsamkeit ein Gebot der Stunde.
Höchste Alarmstufe. In Mauthausen
fünfhundert Sträflinge ausgebrochen.
Sträflinge! Keiner von ihnen schaffte es
bis in unsere gnadenvoll entlegene Gegend.
Aber die Minerl in Katsdorf sah blutige Fährten.
Sie sah die steifgefrorenen russischen Leiber,
aufgeschlichtet neben dem Ortsschild.
Gesetzt den Fall, einer wäre durchgekommen
und plötzlich vor uns gestanden, im Holz,
oder erschöpft neben dem Koben gelegen:
[96] Hätten wir ihn versteckt, sei ehrlich Mitzi.
Eine Nacht, vier Nächte gewiß, aber fünf Monate?
Nachher
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