Diesseits Des Mondes
schienen die Autos ihr verschwörerisch zuzublinzeln, die Fenster der Häuser riefen ihr Glückwünsche zu. Sharon stolperte fast über einen Pudel, der bellend an ihr hochsprang, das Auto der Turbo-Nazi-Oma sprang erst beim dritten Versuch an.
Alexander war noch nicht da. Sharon brachte der Turbo-Nazi-Oma die Autoschlüssel zurück, ließ sich Tee einschenken, aß die Kekse, die sie Alexander zugedacht hatte. Ich war in der Synagoge, sagte Sharon zu den Müttern. Sie wusste nicht, weshalb sie das gesagt hatte.
In der Synagoge, wiederholte die Nazi-Oma, von der die Enkelin Danda sagte, dass sie gaga sei, in der Synagoge, so, so. Eine Weile war es still, die Turbo-Nazi-Oma schaute aus dem Fenster, dann sah sieSharon an. Beide akzeptierten, dass das Dritte Reich mit ihnen am Tisch saß. Propheten und Priester sagen Friede!, Friede!, und ist doch nicht Friede.
Sie können jederzeit mein Auto benutzen, sagte die Turbo-Nazi-Oma, jederzeit. Ich brauche es kaum noch, ich bin ja schon siebenundsiebzig.
Ja, sagte Sharon, ja, danke, und sie wusste, dass sie verloren war, wenn die Dämmerung kam und Alexander nicht da war.
Die Ruhelosigkeit in Sharon brachte sie zum Zittern. Das Teeglas klirrte, als sie es auf den Teller stellte. Das Klirren klang ihr wie Ironie, wie die höhnische Stimme Clarissas: In der Familie von der Heydte hat es noch nie eine Stripperin gegeben. Sharon sprang die Treppen hoch zum Telefon. Sie konnte nicht mehr warten, konnte nicht länger Illusionen nachhängen.
Die Wirtschafterin war am Apparat, Sharon erkannte die Stimme. Nein, der junge Herr von der Heydte ist nicht da. Nein, sie wisse auch nicht, wann er komme, nein.
Sharon suchte einen halbwegs vernünftigen Gedanken, eine Idee, warum Alexander nicht da war, nicht bei ihr war, nicht daheim war. Vielleicht hatte er einen Unfall, ja, es wäre Sharon lieb gewesen, wenn Alexander verunglückt wäre, sofort klammerte sich ihre Fantasie an diese Möglichkeit. Ihre Fantasie malte sich aus, dass Alexander zerschmettert in einem kleinen Krankenhaus läge ...
Dabei wusste Sharon längst, dass Alexander nicht kam, weil er nicht kommen wollte.
Sharon ging hinunter zu Krug. Sie bat ihn, bei der Familie von der Heydte anzurufen. Unter einem anderen Namen sollte er nach Alexander fragen. Krugwählte die Nummer, ließ sich Alexander geben, reichte den Hörer Sharon und ging.
Alexander! Hatte Sharon es geschrien?
Seine Stimme war nicht Alexanders Stimme. Seine Worte waren nicht Alexanders Worte.
Eine Lüge, sagte Alexander, eine Lüge, ein Trick. Du weißt doch genau, warum ich dich nicht sprechen will, und missbrauchst deine Freunde. Du kannst alle belügen und betrügen. Vor allem mich. Du hast mich vor meiner Familie zum Deppen gemacht. Zum dummen Jungen, der sich von einer Stripperin einfangen lässt. Warum hast du mich ins Messer laufen lassen? Weißt du, wer hier neben mir steht? Dietl, Ferdinand Dietl, du kennst ihn doch, oder? Und du kennst doch auch Friedrich, und wie sie alle noch heißen mögen, du – es kotzt mich an ...
Auf der Treppe begegnete Sharon Krug. Er fasste ihre Schultern, sah sie besorgt an. Sharon machte sich los, lief hinauf. Als Krug oben die Tür zuschlagen hörte, ging er in sein Zimmer. Er wählte noch einmal Alexanders Nummer, legte dann aber auf, ehe sich jemand meldete.
Sharon hörte immer wieder Alexanders Stimme: »Dietl, Ferdinand Dietl, du kennst ihn doch, ihn und Friedrich.« Was bedeutete das für Alexander?
Sie hatten nicht geredet. Wann auch? Die Zeit, die sie hatten, brauchten sie füreinander. »Sie liebten so«, wie es Shakespeare sagte »Daß Lieb’ zu zweien/Nur aus einem Wesen war; Unterschieden, doch
ein
Paar.«
Und heute? Was hatte Alexander erfahren? Waren sie nicht mehr
ein
Paar? Alexanders Wahrheit, die nicht Sharons Wahrheit sein konnte, hatte offenbar Alexanders Liebe zerstört.
Sharon glaubte zu ersticken, die Wände des Zimmers schienen immer näherzurücken, es war wie ein Käfig, ein Gefängnis, in dem sie, Sharon, auf die Verurteilung wartete, der Schuldspruch war schon gesprochen, die Vollstreckung, Genickschuss oder Gas, hatte schon stattgefunden. Liebe wagt, was irgend Liebe kann. Auch Shakespeare. Alexander hatte nichts gewagt, nichts getan, um Sharon vor der Vernichtung zu retten. Und nur, weil Sharon ihn dazu durch einen Trick gezwungen hatte, war er bereit gewesen, ihr den Schuldspruch mitzuteilen.
Sharon wollte nicht mehr denken. Sie wollte sich fortschaffen, schlafen, nicht
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