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Diesseits Des Mondes

Diesseits Des Mondes

Titel: Diesseits Des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asta Scheib
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mehr sein. Nicht mehr die Stimme dieses Sohnes von der Heydte hören, nicht mehr die Bilder sehen aus dem Valle Argentina, nicht mehr an das Kind Alexanders denken   ...
    Sharon suchte nach Schlaftabletten. Als sie drei auf einmal schlucken wollte, fiel ihr ein, dass ihr Körper ja jetzt ein anderes Leben mit umschloss. Ein Wesen, das ihr unbekannt war, dem sie, Sharon, unbekannt war. War sie diesem Leben Rechenschaft schuldig? Würde es ihm schaden, weil sie sich fortschaffen wollte, schlafen wollte, bevor der Zorn und die Verzweiflung sie wahnsinnig machten? Dieses Leben in mir, dachte Sharon, ist schon jetzt an mich gekettet, wie ich an Ruth gekettet war. Wir sind ein Gespann, voneinander abhängig, sterbe ich, stirbt auch dieses Leben. Das bedeutete aber auch, dass sie, Sharon, von diesem neuen Leben abhängig war.
    Als Sharon sich entschloss, nur eine Tablette zu nehmen, war sie sich klar darüber, dass Alexanders Kind, das in ihr wuchs, ihr ebenso unbekannt, fern und fremd war wie Alexander.

12
    Gegen Mittag, als Sharon erwachte, drangen die Schmerzen des gestrigen Tages mit Wucht in ihr Bewusstsein ein. Sie hörte von draußen die Autos, Kinderlachen – und empfand es wie einen Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, der sie jetzt nicht mehr entkommen konnte. Sie konnte sich nicht mehr mittels Tabletten in den Schutz des Schlafes zurückziehen.
    Gestern, als Sharon mit Alexander telefonierte, als von ihren Visionen nur noch Wut, Bitterkeit und Verzweiflung übrig blieben, da hatte Sharon zwar nur ungenau, aber doch nachhaltig ein Bild wahrgenommen. Auf dem Cover eines Magazins hatte Sharon ein Bild gesehen, ein Mädchen, ein Mann, jeweils die Hälfte eines Gesichtes montiert zu einem Ganzen, das dann wieder durch einen Riss getrennt wurde. »Trennungen« hatte darunter gestanden. Trennungen, und wie man damit fertig wird. Sie, Sharon, musste mit der Trennung von Alexander fertig werden. Jeder auf seine Weise. Was hieß das für Sharon? Hieß es, in das große Jugendstilfenster der von der Heydtes Steine zu werfen, das Haus anzuzünden? Kristallnacht verkehrt? Hieß es, Alexander zu ohrfeigen, bis die Hände vor Erschöpfung abfielen?
    Sharon horchte ins Haus. Es schien leer. Die Mütter waren früh aufs Land gefahren, wie immer. Krugs Auto stand nicht vor dem Haus, er hatte woandersgeschlafen. Die Stille, das Schweigen im Haus schien Sharons Wut und Schmerz zu verdreifachen. Sharon konnte die höfliche Jugendstilstille des Hauses nicht mehr aushalten. Polternd lief sie die Treppe hinunter, jede Stufe dröhnte einzeln in ihren Ohren. Ich werde wahnsinnig, dachte Sharon, ohne meine Träume, ohne meine Illusionen werde ich wahnsinnig, ich habe schon immer versucht, zu bekommen, was ich nicht bekommen konnte.
    In Israel habe ich das versucht, ich wollte ein Land, das es nicht gibt. Ein Land, das aus Liebe besteht und aus Geliebtwerden. Und ich hatte geglaubt, Israel sei nicht dieses Land, weil es Abel nicht mehr gab und jeden Tag Krieg und Gräber und Handgranaten aus dem Hinterhalt. Die Angst vor der Einsamkeit, die Leere in Ruths Haus in Ramat Chen, das schon längst nicht mehr mein Elternhaus war. Das Schweigen in mir, ich wollte allem entkommen.
    Und nun bin ich hier. Was habe ich in Alexander gesucht? Abel? Mich selbst? Antwort auf meine Fragen? Trost in meiner Verlassenheit, Hoffnung, durch Alexander zu werden, was ich allein nicht werden konnte? Ich wollte etwas haben, was mir gehörte. Ich wollte jemandem gehören, ganz.
    Sharon warf die Haustür hinter sich zu. Die Fenster der Häuser, die ihr bislang immer Versprechen für Freundschaft und Wärme gewesen waren, diese Fenster schienen heute Schießscharten. Selbst die Steine des Gehwegs, das Grau des Asphalts schien Sharon feindselig.
    Sie fuhr aus dem grünen Gehäuse Nymphenburgs durch die Stadt. Sie nahm den gleichen Weg in entgegengesetzter Richtung, den sie gestern gefahrenwar. Es war, als löse sie sich heute aus allen Bindungen, als nehme sie Abschied von allen, von Christin, Pablo, von Birke und Michael Krug, sie alle hatten sich Sharons lächerlichen Liebeswahnsinn mit ansehen müssen, mit anhören müssen. Sharon war in Lächerlichkeit gehüllt wie in ein Theaterkostüm.
    David Melech Jisrael/Chai wekajam.
    David, der König Israels, lebt und besteht. Sharon sang das alte hebräische Volkslied, das die Bitterkeit in ihr noch verstärkte.
    Sie dachte an Abel, und die Erinnerung an seine unbedingte Zuneigung verstärkte noch die demütigende Scham

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