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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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den ganzen Tag gearbeitet, gingen danach aber nicht schlafen. Aus heutiger Sicht undenkbar, doch damals hatten wir sogar nach diesen langen Arbeitstagen noch Kraft zum Feiern. Wir haben am Lagerfeuer gesessen, gesungen und getanzt. Oft hat es Konzerte gegeben, Dean Reed kam und Alla Pugatschowa … Lalala-lala!«
    Ich schaute auf den singenden Herrn Köpke und erkannte den Mann nicht wieder. Sein Gesicht, ja die ganze Erscheinung hatte sich völlig verändert, während er in seinen Erinnerungen versank. Hoffentlich lässt er das Boot nicht fallen, dachte ich und hörte höflich zu. Obwohl die längste Eisenbahnstrecke der Welt meines Wissens hauptsächlich von Häftlingen und Soldaten gebaut worden war, wollte ich Herrn Köpke nicht widersprechen. Der Bau musste unter unmenschlichen Bedingungen stattgefunden haben, hatte ich mehrmals aus verschiedenen Quellen erfahren, sodass viele damals ihre Gesundheit ruinierten. Aber vielleicht hatten die Russen ein Stück der Eisenbahntrasse extra menschenwürdig gestaltet und den internationalen Brigaden zum Austoben zur Verfügung gestellt. Dort brannte jeden Abend das Lagerfeuer, und Herr Köpke tanzte mit rumänischen und vietnamesischen Kollegen Kasatschok um die Flammen herum, bis seine Filzstiefel zu schmelzen anfingen. Vielleicht war es so. Mir kam das nun zugute, wie ich dankbar feststellte, also wollte ich seinen Erinnerungen nicht widersprechen.
    »Diese Nächte und das Gefühl der Zusammengehörigkeit werde ich nie vergessen«, nickte Herr Köpke. »Fahren Sie heute denn noch oft nach Russland?«, fragte er mich erneut.
    »Nicht sehr oft«, erzählte ich. »Aber einmal im Jahr fliegen wir in den Kaukasus, um Verwandte dort zu besuchen.«
    »Können wir für eine Sekunde stehen bleiben? Ich hätte eine Bitte an Sie. Wissen Sie, damals bei der Eisenbahn, als wir mit dem Auftrag fertig waren, haben uns unsere sowjetischen Freunde tolle Geschenke gemacht. Und zwar durften wir unsere Arbeitshandschuhe mitnehmen als Andenken an die gemeinsame Arbeit. Genau genommen waren es Fäustlinge mit zwei Fingern. Sie waren so gut! Ob früher oder später, in keinem Baumarkt, in keinem Geschäft für Arbeitskleidung habe ich je wieder so gute Arbeitshandschuhe gesehen, nicht einmal in der sozialistischen DDR , vom Kapitalismus ganz zu schweigen. Das war sowjetische Qualität! Man konnte in diesen Handschuhen selbst bei minus fünfzig Grad noch draußen arbeiten. Ich habe sie Tag und Nacht getragen!«, schwärmte Herr Köpke. »Inzwischen sind sie ziemlich auseinandergefallen, immerhin habe ich sie schon vierzig Jahre. Die hiesigen Märkte geben, wie gesagt, nichts Vergleichbares her. Deswegen dachte ich, wenn es irgendwo auf dieser Welt noch solche guten Handschuhe geben könnte, dann sicher bei Ihnen in Russland. Wenn Sie mir ein Paar mitbringen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Nehmen Sie am besten gleich drei Paar, nein, nehmen Sie vier!«, bat mich Herr Köpke.
    So aufgeregt hatte ich ihn noch nie gesehen. Wir trugen das Boot die letzten zwei Meter und schoben es ins Wasser. Mit seinen Handschuhen hatte mich der Nachbar überrascht. Ich konnte mir, ehrlich gesagt, nichts darunter vorstellen. Was sollen das für zauberhafte Handschuhe gewesen sein, extra in meiner Heimat produziert zur Verteilung an die Mitglieder der internationalen Arbeiterbrigade beim Bau der längsten Eisenbahnstrecke der Welt? Aber die Planwirtschaft der Sowjetunion war verrückt genug, um womöglich auch so etwas zu produzieren.
    »Würden Sie mir diese Handschuhe zeigen, damit ich im Kaukasus nichts Falsches kaufe?«, fragte ich den Nachbarn neugierig.
    »Natürlich, bleiben Sie einen Moment da, ich hole sie!«, rief Herr Köpke und lief enthusiastisch den Berg wieder hoch.
    Ich blieb im Boot sitzen und überlegte, was sich wohl damals beim Bau der Trasse wirklich abgespielt haben mochte. Bestimmt hatte sich Herr Köpke, damals ein junger Student, unsterblich in eine hübsche Russin verknallt. In der letzten Nacht vor seiner Abreise gingen sie in der Taiga spazieren, küssten sich, und die Frau gab ihm, dem mageren Deutschen, ihre Handschuhe als Andenken und damit er sich die Finger nicht abfror. Danach trennten sich ihre Wege. Doch nach Deutschland zurückgekehrt, wollte Herr Köpke die Handschuhe nie wieder ausziehen. Plötzlich merkte er, dass ihm alles wunderbar gelang und jeder Arbeitseinsatz ein Erfolg wurde, wenn er dabei die geschenkten russischen Arbeitshandschuhe trug. So hatte er die Liebe

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