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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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damals. So wird beispielsweise in der Chronik eine alte Anordnung zitiert, die die brandenburgischen Schweizer des »boshaften Verhaltens und Ungehorsams dem Kurfürst gegenüber« bezichtigte. Beim Verlesen kurfürstlicher Verordnungen wollten die Schweizer ihre Köpfe nicht senken und verweigerten auch sonst jedes Zeichen der Unterwerfung vor der fürstlichen Macht. Diese Schweizer konnten logischerweise kein Hochdeutsch, waren christlich-reformierten Glaubens und führten ein sittenstrenges Leben. Nach außen waren sie nicht besonders aufgeschlossen, nach innen aber solidarisch. Wenn ein uneheliches Kind zur Welt kam, übernahm die ganze Kirchengemeinde die Patenschaft, vorausgesetzt der Vater war ein Lutheraner.
    Um 1806 kam Napoleon ins Dorf, nachdem er die Preußen bei Jena und Auerstedt geschlagen hatte. Laut Chronik gefiel es Napoleon in Glücklitz so gut, dass er partout keine Lust mehr auf weitere Schlachten hatte und sogar überlegte, hier seine Sommerresidenz zu errichten. Doch den Glücklitzern gelang es, Napoleon von der Notwendigkeit eines Russlandfeldzuges zu überzeugen. Dabei wussten sie genau, dass die Russen geborene Partisanen und als solche nicht zu besiegen waren. Damals glich Russland dem Afghanistan von heute – ein friedliches Land, das keinem wehtat, doch jeder hochmütige Weltgeist, den es dorthin verschlug, musste dies bitter bereuen. Die Glücklitzer wollten Napoleon mit seiner Sommerresidenz unbedingt loswerden. Er zog tatsächlich weiter nach Russland, suchte die große Schlacht mit der Armee des Zaren und bekam es stattdessen mit Bauern zu tun, die seinen tapferen Soldaten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit eine Mistgabel in den Hintern stießen und dann schnell wegliefen. Ein altes russisches Sprichwort besagt, was einem Russen guttut, ist des Franzosen Tod. Russisches Essen, russisches Trinken und russischer Winter vernichteten die Armee Napoleons effektiver, als alle Geschütze es hätten tun können. Den Sieg über Napoleon sprachen die Russen allein dem Mut des Zaren und der Tapferkeit ihrer Generäle zu. Die Bedeutung der sogenannten »Glücklitzer Entscheidung«, die langfristig das Schicksal des französischen Imperators besiegelte, wurde in Russland nicht wahrgenommen.
    Der Erste Weltkrieg, der überall in Deutschland mit großer Begeisterung und Opferfreudigkeit begrüßt wurde, hat die Glücklitzer nicht besonders erfreut. Während sich im ganzen Land freiwillige Patrioten meldeten, zogen nur drei Glücklitzer in den Krieg. Und das nicht freiwillig, sondern wegen der angedrohten Zwangsmobilisierung. An der Front gaben sie sich bescheiden, sprangen nicht ohne Not aus dem Graben und kamen alle frühzeitig zurück. Mit ihnen kamen neue Leute ins Dorf: polnische Arbeitslose, russische Deserteure und Familien aus Schlesien, die Hunger litten. Aus der Dorfgemeinschaft wurde eine Multikulti-Gesellschaft.
    Der böse Wahn des Nationalsozialismus, der dann kam, machte auch keinen Umweg um Glücklitz. So hatte das Dorf bald seine eigenen Nazis – es waren selbstverständlich drei –, aber nur einen Kommunisten, der sich gegen das Trio stemmte: den Gastwirt der hiesigen Kneipe. Warum bei den Kommunisten die magische Zahl drei nicht griff, darauf bleibt die Geschichte des Dorfes die Antwort schuldig. Der Gastwirt, so steht es in der Chronik, war im Untergrund aktiv. Er versteckte von Hitler verfolgte »entartete Kunst« bei sich im Keller, genau genommen nur ein Bild: den »Goldfisch« von Paul Klee. Was hatte Hitler gegen diesen Goldfisch? Aus heutiger Sicht ist das schwer nachzuvollziehen. Auch warum der Künstler den Goldfisch überhaupt gemalt hat, ist unklar. Vielleicht war Paul Klee irgendwann einmal in Brandenburg angeln gegangen und hatte plötzlich einen Fisch am Haken, der zum Essen zu niedlich und für Katzen zu klein war. Kaum wollte er ihn wieder in den See werfen, sagte der Fisch mit tiefer Stimme: »Wenn du mich malst, hast du drei Wünsche frei.« Ob sie erfüllt wurden und ob sich Paul Klee überhaupt etwas gewünscht hat, ist nicht überliefert. Der gemalte Goldfisch hat im Keller der Gaststätte den Krieg überlebt. Heute hängt er in Hamburg in einem Museum.
    Der Zweite Weltkrieg zerstörte das ganze Land, Glücklitz überlebte jedoch. Es hatte hier zum Glück keine Waffenfabriken und keine Armeeeinheiten gegeben, daher war das Dorf nicht zerbombt worden. Aber auf dem Weg, von dem früher die Pilger abgekommen waren, fand nun der Todesmarsch aus dem

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