Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
beschränkte sich auf 2,5 Jahre. Eigentlich. Dank der modernen und teuren Veterinärmedizin sind Ratten inzwischen jedoch fast unsterblich geworden. Das Kind ist inzwischen erwachsen und bald mit der Schule fertig. Aber Siegfried und Brunhilde sind noch immer da, obwohl sie alle zwei Wochen zum Arzt müssen – zu Tomografie und Blutuntersuchung.
Herr Köpke hat seit unzähligen Jahren zwei Dutzend Hühner. Seine Frau, seine Tochter mit ihrem Ehemann, die ganze Familie hat mit ihnen jeden Tag alle Hände voll zu tun. Alle laufen ihnen hinterher und passen auf, dass ihnen nichts passiert. Trotzdem vergeht keine Woche, ohne dass nicht mindestens ein Huhn vermisst wird. Entweder fällt es in eine tiefe Pfütze und ertrinkt, oder es wird vom Fuchs gefressen oder von einem Hund auf einen Baum gejagt und stirbt infolge eines Nervenzusammenbruchs. Aber die Familie gibt sich bei der Hühnerpflege Mühe und wird dafür jeden Tag mit frischen Eiern belohnt.
In Berlin haben die Leute für Hühner keine Zeit, sie sind schon mit einem Kaninchen überfordert. Dennoch gehen sie gerne auf Demos, was schließlich auch unterhaltsamer ist, als Hühnern hinterherzulaufen. Es wirkt befreiend, gegen etwas zu sein, was man selbst nicht tun muss, und erleichternd, andere darüber zu belehren, wie sie ihre Arbeit machen sollen, statt für etwas zu sein und es selbst zu tun. Es gab Zeiten in Russland, da füllten Hühnerbeine aus Amerika plötzlich die russischen Märkte. Die Beine waren dick, kräftig und kosteten fast nichts. Auf jeden Fall waren sie viel günstiger als die aus heimischer Produktion. Im Volk nannte man sie spöttisch Bush-Schenkel und erzählte sich, die Amerikaner hätten eine neue, vierbeinige Hühnerrasse gezüchtet, daher der Schenkel-Überschuss. Gott sei Dank sind die Deutschen hierbei den Amerikanern nicht gefolgt, sonst wäre das ganze Land von freilaufenden vierbeinigen Hühnern unterwandert. Unter solchen Umständen wäre wahrscheinlich sogar Herr Köpke nach Polen ausgewandert, der einzige Hühnerbesitzer von Glücklitz.
Überhaupt ist in Glücklitz wenig von privater Landwirtschaft, von Gartenarbeit zu sehen. In vielen Gärten stehen nur Tischtennisplatten und Bänke. Bäume, gar Obstbäume, hat hier kaum einer. Ich glaube, das mit den Obstbäumen hat sich erledigt. Die ständige Verfügbarkeit aller Lebensmittel das ganze Jahr über zu niedrigen Preisen macht jede Gartenarbeit überflüssig.
Während ich ganz Glücklitz vergeblich nach den Obstbäumen absuchte, fand in Berlin die internationale Fruchtmesse statt, und wir bekamen Besuch. Es hatte sich so ergeben, dass mehrere alte Freunde von mir inzwischen mit Früchten handelten. Der eine verkaufte Bananen nach Russland, der andere importierte exotische Früchte aus Ecuador in den Südkaukasus. Sie alle kamen zur Fruchtmesse nach Berlin. Mir erzählten sie, dass es jedes Jahr mehr Früchte gab und diese immer exotischer wurden. Die Konsumenten waren immer schwerer zufriedenzustellen. Vorbei die Zeiten, als man die Käufer mit gelben quadratischen Wassermelonen zum Staunen bringen konnte. Inzwischen sind auch flache kernlose Pfirsiche oder Bananen mit Vanillegeschmack keine Besonderheit mehr.
Wir erinnerten uns an frühere Zeiten und kamen zu dem Schluss, dass die Menschheit doch einen Sprung nach vorne gemacht hatte und vieles besser geworden war. Unsere Vettern und Vorvettern hatten zum Beispiel von Bananen keine Ahnung, von exotischen Früchten aus Ecuador ganz zu schweigen. Ihre Kindheit und Jugend erlebten sie in der Zeit des Krieges und der großen Not, und sie hatten schrecklich gehungert. Später, als die Stunde der Freiheit kam und die ersten exotischen Früchte in meine Heimat gelangten, wurden diese Vorvettern aus ihren Wohnorten vertrieben wie einst Adam und Eva aus dem Paradies.
Ich staunte, dass sich in der menschlichen Geschichte das Motiv des Verzehrs einer exotischen Frucht samt darauffolgender Vertreibung stets wiederholte. Seit der ersten Vertreibung wurden die Menschen allerdings immer wählerischer, was ihre Obstwahl betraf. Sie pflanzten alles Mögliche an, um das verlorene Paradies nachzuahmen. Die Erinnerungen an die dortige Flora wurden zunehmend vage. Die einen setzten auf Cannabis, die anderen zogen Weintrauben vor. Das Trauma der Vertreibung ist stark im menschlichen Bewusstsein verankert. Im Grunde ist die ganze Welt ein Vertriebenenverband, denn jeder wurde schon einmal von irgendwo vertrieben oder erst gar nicht dort
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