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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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weite Welt hinaus transportiert, wobei viele Steine in den See gefallen waren. Jahrelang fischte Heiner nun diese alten Ziegelsteine aus dem Wasser, lagerte und nummerierte sie, bis er eine richtige Ausstellung am Ufer zusammenhatte: »Die Entwicklung des Ziegelsteins im vorigen Jahrhundert«. Eine Ausstellung, die leider nur selten besucht wird.
    Durch das Studium der Chronik wurde mir vieles klar. Vor allem, woher die Brandenburger im Allgemeinen und die Glücklitzer im Besonderen ihre speziellen Charaktereigenschaften haben: Sie haben sie ererbt – von Schweizern, Russen, Germanen und drei versteinerten Anglern aus der Bronzezeit. Von den Schweizern haben sie die Schweigsamkeit, den Freiheitsgedanken und den Ungehorsam gelernt. Von den Russen übernahmen sie das Temperament, den schrägen Humor und die Trinkfestigkeit, von den Germanen die Beharrlichkeit und Sturheit und von den Anglern aus der Bronzezeit den Blick. Diesen stets etwas verwunderten, hoffnungsvollen Blick, als würde gleich etwas Unvorhergesehenes passieren – ein großer Zander anbeißen oder noch besser: ein Goldfisch, der ihnen ihre drei wichtigsten Wünsche erfüllt.
    Außerdem bestätigte die Lektüre der Chronik meine alte Überzeugung, dass an jedem Ort unserer Erde, egal wie klein und unbedeutend er scheint, die ganze Menschheitsgeschichte zu finden ist. All diese Orte sind einzigartig, alle Menschen einmalig, nichts wiederholt sich, und doch ist alles und jeder Teil einer gemeinsamen Geschichte. Wie in einem kaputtgegangenen Spiegel spiegelt sich in jedem Splitter, in jedem Körnchen Glas die ganze Welt wider. Alles ist wichtig. Nichts und niemand wird außer Acht gelassen.

Der geheime Handschuh
    Ende April erwachte endgültig das Leben im Glücklitzer See. Die Plötzen sprangen aus dem Wasser, und Schwärme von kleinen Fischen tauchten am Ufer auf, auf der Suche nach wärmeren Plätzchen. Ich bereitete mich auf den großen Fischfang vor. Dazu musste ich das Boot zum Wasser hinunterschaffen und suchte nach jemandem, der mit anpacken würde. Allein konnte ich das Boot nicht einmal schieben.
    Mein Nachbar Herr Köpke betrachtete meine Anstrengungen mit gleichgültiger Miene von der Terrasse seines Hauses aus. Er selbst hatte längst seinen inneren Frieden mit der Welt gemacht. Er hatte keine Lust, zu angeln oder Pilze zu sammeln oder Auto zu fahren. Er hatte überhaupt keine Lust. Das Haus mit Garten und Schaukelstuhl, die Servietten stickende Frau Köpke auf der Veranda, die Kartoffelbeete, die Hühner, die kleine Garage – mit einem Wort alles, was er gebrauchen konnte, besaß er bereits. Darüber hinaus hatte er keine Bedürfnisse, die Welt konnte ihm nichts mehr bieten. Er hatte auch noch eine Tochter und einen Schwiegersohn, die in der anderen Hälfte des Hauses mit eigenem Eingang und eigener Garage wohnten.
    Herr Köpke war schon lange Rentner. Im Grunde war er mit seiner Heimat DDR in Rente gegangen, davor hatte er sein Geld in der Forstwirtschaft verdient. Nun verließ er sein Haus nur noch zum Einkaufen. Dazu fuhr er höchstpersönlich einmal die Woche in die nächstgelegene Stadt. Natürlich wäre seine Frau auch allein mit dieser Herausforderung klargekommen. Nach einem ungeschriebenen Gesetz des Dorfes muss aber der Mann an der Kasse den Geldbeutel zücken, damit die Nachbarn sehen können, wer in der Familie das Sagen hat. Nur deswegen fuhr er zum Einkaufen mit. Herr Köpke war also der Letzte, der mir helfen würde, das Boot runter zum See zu tragen, so dachte ich.
    Plötzlich stand mein Nachbar jedoch auf und kam schnellen Schrittes auf mich zu.
    »Sagen Sie«, fragte er interessiert, »fahren Sie eigentlich oft nach Russland?« Dabei hoben wir zusammen das Boot hoch und trugen es den Berg hinunter. »Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich einmal in Ihrer Heimat gearbeitet habe?«
    In einer solch romantischen Stimmung hatte ich Herrn Köpke noch nie erlebt. Vergnügt erzählte er mir, wie er damals zu DDR -Zeiten als Mitglied einer internationalen Arbeiterbrigade in die Sowjetunion geschickt worden war, um dort im tiefsten Sibirien das große sowjetische Volk beim Bau der längsten Eisenbahn der Welt durch die Taiga zu unterstützen. Die Brigade trug ihren Namen zu Recht: Rumänen, Vietnamesen und sogar ein paar Eritreer waren dabei. Der Spaß an der Arbeit im Schnee ist Herrn Köpke besonders lebhaft in Erinnerung geblieben.
    »Es war eine großartige, enthusiastische Stimmung«, erzählte er. »Die Russen und wir haben

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