Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
ebenfalls für niedlich halten und sie streicheln wollen, werden nie ein zweites Mal ihre Hand nach irgendeiner Katze ausstrecken.
Wir geben uns schon lange keine Mühe mehr, diese Katze zu verstehen, und gehen Wassilissa einfach aus dem Weg. Sie sitzt in der Regel auf dem Kleiderschrank meiner Mutter neben der Balkontür und schaut in den Himmel. Wird sie mit ihrem Namen angesprochen, bellt sie von dort aus laut. Man fühlt sich eigentlich nur in Sicherheit, wenn man weiter als zwei Meter vom Kleiderschrank entfernt ist. Der einzige Mensch, den dieses durchgeknallte Wesen in seiner Nähe duldet, den sie niemals anbellt, der sie sogar streicheln und kämmen darf, ist meine Mutter. Bei ihr benimmt sich Wassilissa wie das süßeste Kätzchen der Welt. Sie schnurrt sogar, obwohl sie dabei so unglaubwürdig aussieht wie eine Pythonschlange, die sich für ein Kaninchen ausgibt.
Meine Mutter kennt nur ihre eigene Wahrheit und wirft uns vor, wir würden ihr niedliches kleines Kätzchen böswillig zu einem Engel der Hölle stilisieren. Die tiefen Kratzer am ganzen Körper, die jeder Versuch der Annäherung an Wassilissa bei einem hinterlässt und die aussehen wie von Granatsplittern verursacht, dazu mehrere in kleine Stückchen zerfetzte Gäste, blendet meine Mutter aus. Sie sagt, ihre Gäste wären selbst schuld. Hätten sie Wassilissa an der richtigen Stelle gestreichelt, wäre nichts passiert.
Wir denken nicht daran, Wassilissa an irgendeiner Stelle zu streicheln. Das bestialische Verhalten dieser Katze führen wir auf ihre schwierige Kindheit zurück. Früher, bevor sie ihren Platz auf dem Schrank einnahm, saß Wassilissa bevorzugt auf dem Balkon. Das Treiben der kleinen Vögelchen interessierte sie sehr. Und manchmal, wenn sie vom Balkon ins Zimmer zurückkam, konnte sie aus technischen Gründen ihr Maul nicht zuklappen, weil kleine Vogelbeinchen daraus hervorragten. Dasselbe ist etlichen Amerikanern bei McDonald’s passiert, die den sogenannten doppelten BigMac bestellt hatten. So stand es in der Zeitung. Nach mehreren Fällen von Kiefersperre wurde das Produkt wieder aus dem Sortiment genommen. Bei den Spatzen war es so: Obwohl einige von ihnen nicht in Wassilissas Maul passten, warnte sie der liebe Gott nicht vor dem Balkon. Dann wurden sie von der Katze geholt und blieben Wassilissa buchstäblich im Hals stecken. Meine Mutter erklärte diese Vorfälle selbstverständlich mit dem Hinweis auf das freche Verhalten der Vögel auf ihrem Balkon. Diese flogen ihrer Meinung nach dem Kätzchen absichtlich ins Maul, wahrscheinlich um sie hinterhältig zu ersticken.
Wassilissa kann trotz ihrer Masse sehr schnell und beweglich sein. Manchmal springt sie blitzschnell vom Fensterbrett aufs Balkongitter, immerhin ist sie eine Maine-Coon-Katze, und das Herumspringen liegt ihr im Blut. Einmal hat sie die Strecke jedoch falsch eingeschätzt und flog vom vierten Stock auf die Straße. Dabei versuchte Wassilissa sich vermutlich an der Hauswand festzuhalten, und ihre Krallen hinterließen an der Hausfassade tiefe Spuren. Zum Glück haben alle diesen tragischen Vorfall überstanden, Wassilissa blieb am Leben, und selbst der BMW , der unter dem Balkon parkte, hatte bloß eine große Beule auf dem Dach. Außerdem erlitt eine zufällige Passantin als unfreiwillige Zeugin einen Schock, und die zerkratzte Hausfassade musste frisch gestrichen werden. Seitdem sitzt Wassilissa auf dem Schrank und beobachtet von dort aus Vögel und Menschen. Ihre Wahrheit ist: Die Welt ist voller böser Vögel, aber man muss nicht allen hinterherspringen. Wir beobachten Wassilissa, wie sie vom Schrank aus die Vögel beobachtet. Unsere Wahrheit ist: Wassilissa ist eine gefährlich Gestörte. Doch diese Wahrheit will niemand außer den Spatzen mit uns teilen. Es kommt auf den Standpunkt an, und sicher sieht die Welt vom Kleiderschrank aus ganz anders aus als vom Balkon.
Die Welt ist voller Wahrheiten, jeder hat eine eigene. Sicher kann man auch die absolute Wahrheit erlangen, dafür muss man bloß alle persönlichen Wahrheiten in einen Topf werfen, sie kräftig umrühren, miteinander vermischen, und sofort wird das Ganze sichtbar. Doch Freiwillige für diese Aktion werden wir vergeblich suchen. Weder Wassilissa noch meine Mutter werden mitmachen. Jeder hält seine Wahrheit für die einzig wahre. Es ist nämlich viel leichter, die eigene Wahrheit zu verteidigen, als eine fremde zu akzeptieren. Und wenn zwei Wahrheiten aufeinandertreffen, knallt es
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