Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
gewaltig.
In der Regel sind Wahrheiten gleich groß, und so können sie einander ewig bekämpfen. Nur selten trifft eine dünne auf eine dicke. Dann zerbricht die dünne und geht unter. Was bleibt, sind Schadenfreude statt Mitleid und Vergeltung statt Vergebung. Es ist überhaupt verdammt schwierig, zu vergeben. Ich habe gesehen, wie Kindern die Tränen in die Augen schossen, wenn ihre Wahrheit beleidigt und kaputt gemacht wurde. Es ist tausendmal leichter, seinen Beleidiger zurückzubeleidigen, als ihm zu vergeben. Für Kinder ist es beinahe unmöglich, und so wird zurückbeleidigt und geschlagen – in der Regel in geometrischer Progression. Das heißt, man muss jedes Mal doppelt so fies sein wie sein Gegenüber. Das Böse vermehrt sich rasch und ist nicht mehr wegzukratzen. So geht es dann immer weiter, bis keiner mehr kann. Angesichts der Schwierigkeiten mit der Vergebung haben wir mit den Kindern eine eigene Formel entwickelt: zwei Beleidigungen gleich eine halbe Vergebung. Eine ganze Vergebung würde dementsprechend wie vier Schwerbeleidigungen wiegen.
Leider geht nichts ohne Vergebung, weil wir Menschen aufeinander angewiesen sind. Wir sind früher immer in Gruppen herumgelaufen, eng aneinandergepresst. Nur so konnten wir uns vor dem Säbelzahntiger schützen und das Mammut erledigen. Deswegen haben die Menschen als einzige Lebewesen ihre Ganzkörperbehaarung verloren, deswegen haben sie auch solch eine übertriebene Sexualität, weil sie sich stets aneinander rieben und sich während der Eiszeit aneinander wärmten. Nicht umsonst versammeln wir uns auch so gerne in großen Mengen, sei es bei der Loveparade, beim Karneval oder einer Revolution.
Kleine und große Fische in der DDR
»In der DDR gab es ganz andere Fische als im Westen«, erzählte mir Hartmut. Die ostdeutsche Forelle zum Beispiel hatte er viel fetter in Erinnerung als die Westforelle, sie hätte aber dafür mehr Gräten gehabt. Auch die Ost-Schollen hätten anders ausgesehen, meinte er. Sie wären nicht so flach gewesen und manche sogar beinahe quadratisch. Es gab anscheinend zwei verschiedene Schollenarten: die flachen waren im Westen geblieben, die quadratischen in den Osten abgewandert. Nach dem Fall der Mauer wurden die sozialistischen, quadratischen Schollen allerdings flachgelegt, das Kapital verpasste ihnen eine marktkompatible Form. Dekadente Arten wie Lachs gab es im Osten gar nicht oder nur an großen Feiertagen für schwedische Touristen. Die Karpfen waren die Lachse des Ostens. Karpfen und Aale, das waren sozialistische Delikatessen. Dafür gab es im Osten so gut wie keine Krabbeltiere, denn alles was krabbeln konnte, krabbelte in den Westen, um dort als Häppchen zu dienen.
Von meinen koreanischen Freunden weiß ich, dass die meisten koreanischen Fische sich für die dortige sozialistische Diktatur entscheiden. Während die Menschen aus dem Norden in den Süden flüchten, schwimmen die Fische ihnen entgegen, weil sie im Norden weniger gefangen werden. Außerdem ist das Wasser im Norden sauberer, weil die Nordkoreaner weniger bauen und produzieren. Die Ökologie des Nordens zieht die Fische an, sehr zum Ärger der südkoreanischen Fischer.
In meiner Sowjetunion war es umgekehrt. Einmal verließen uns alle Delphine im Schwarzen Meer: Sie schwammen rüber in die Türkei. Dabei waren diese Delphine eine wichtige Sehenswürdigkeit an den Stränden von Odessa. Jedes Mal, wenn eine Delphinleiche an den Strand gespült wurde, kam die halbe Stadt zusammen. Und das geschah fast jede Woche, nämlich immer dann, wenn die Kanalisation die Abwässer der Stadt ins Meer spülte. Die Menschen hätten lieber mit lebenden Delphinen gespielt, aber auch über die toten freuten sie sich und ließen sich mit den »Nasenfischlein«, wie sie Delphine nannten, fotografieren.
Eines Tages aber waren die Delphine verschwunden, niemand wusste, wohin. Die sowjetische Öffentlichkeit begriff diesen Verlust als ideologische Provokation des Westens. »Die Türken haben unsere Delphine mit Tricks auf ihre Seite geholt. Sie haben ihnen in neutralen Gewässern jahrelang Futter ins Wasser gestreut und sie mit akustischen Signalen gelockt, die auf Delphine anziehend wirken«, schrieb die sowjetische Presse. Das Fazit der Zeitungen war unmissverständlich: Die türkischen Kapitalisten hatten unsere Delphine als Geiseln genommen. Aber früher oder später würde die türkische Arbeiterklasse sich mit unserer Hilfe gegen die Ausbeutung wehren. Dann würden unsere
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