Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
dargebracht. Vom Hirten hat er das Opfer angenommen, vom Ackerbauer nicht. Warum das? Aram meinte, der Hirte hätte Gott besser gefallen. Er nahm seine Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit wahr, als Geschenk, als unendlich bunten Strauß der Schönheit, in dem tausend Blumen nebeneinander blühen. Abel zog mit seinen Lämmchen von einer Weide zur nächsten und passte sich der Welt an. Er hatte nicht vor, irgendetwas an dieser Welt zu ändern. Das abgeweidete Gras wuchs schnell nach, und anstelle eines geschlachteten Lämmchens wurde ein neues geboren.
Sein Bruder Kain beschäftigte sich, wie gesagt, mit Ackerbau. Von früh bis spät ackerte er auf dem Feld, und in 98 Prozent der Gottesschöpfungen erblickte er nur Unkraut, das seiner ganzen Mühe zum Trotz zu schnell nachwuchs. Natürlich fragte sich Kain verzweifelt, wozu sein Herrgott so viel Unkraut brauchte und so wenig nützliche Pflanzen erschaffen hatte, die auch noch sorgsam gepflegt werden mussten, während das unnütze Zeug von alleine wuchs. Kain vermutete dahinter einen schlechten Witz des Schöpfers. Überhaupt ging ihm die Unordentlichkeit der Welt, die Anarchie der Natur, auf die Nerven. Er hielt die Schöpfung für fehlerhaft. Kain selbst hatte klare Vorstellungen, wie man die Welt verbessern konnte. Aus Bergen und Wäldern hatte er akkurat übersichtliche Felder geschaffen. Die Flüsse, die ursprünglich geflossen waren, wohin sie wollten, hatte er in Kanäle gezwungen, die seine Felder bewässerten. Hätte Kain alle seine Pläne verwirklichen können, es wäre eine bequeme, praktische Welt ohne Hunger geworden, in der das Überflüssige und Nichtsnutzige keinen Platz mehr gehabt hätte. Doch Gott hatte andere Pläne. In seiner Welt wuchs Unkraut an jeder Ecke, und Tausende völlig nutzlose Tierchen, Vögel und Insekten, die man nicht einmal als Kinderschreck einsetzen konnte, hingen überall in den Bäumen herum.
Kain erkannte auch die Schwächen der Menschen. Auch sie hatten dringend Verbesserungen nötig, allen voran sein Bruder mit seinen Lämmchen, der jede Arbeit auf dem Feld ignorierte und an Kains Pläne und Ideen zur Umgestaltung der Welt nicht glaubte. Dazu kam dann noch, dass Gott sein Opfer verschmähte und das seines Bruders annahm. Vor so viel Ungerechtigkeit wurde Kain schwarz vor Augen, sodass er seinen Bruder tötete. Gott hat dafür seine Nachkommen mit der Flut gestraft. Insofern sind alle heute lebenden Menschen Nachkommen des dritten Sohns von Adam, der sich nie richtig entscheiden konnte, was tun. Bis heute sind sich die Menschen nicht einig, womit sie sich im Sinne der Schöpfung beschäftigen sollten. Sollen sie trotzdem Ackerbau betreiben oder es doch lieber sein lassen und mit Viehherden umherziehen? Solange sie sich nicht entscheiden können, gehen sie angeln.
Aram war in seinem früheren Leben zu Zeiten der Sowjetunion als Gärtner tätig. Er interessiert sich mehr für Bäume als für Tiere, vor allem für seinen Familienstammbaum, der ja angeblich bis zu Adam und Eva zurückreichte. Als wäre das nicht Ehre genug, behauptete er mir gegenüber auch noch mehrmals, den berüchtigten Baum der Erkenntnis in seinem Garten zu besitzen. Aram erzählte, nachdem der erste Mensch mit seiner Frau unerlaubt vom Baum der Erkenntnis genascht hatte, wären nicht nur die Menschen, sondern auch die Bäume aus dem Paradies vertrieben worden. Allen voran der Baum der Erkenntnis. Auf der Erde haben die Bäume Wurzeln geschlagen, doch mit ihren Kronen streben sie direkt in den Himmel, als wären ihre Zweige ebenfalls Wurzeln, die sich am Himmel festmachen wollten.
Bäume sind unsere letzte Hoffnung, sie halten Himmel und Erde zusammen. Allen voran der vertriebene Baum der Erkenntnis. Ihn hatte Noah nach der Flut auf dem Berg Ararat zur weiteren Vermehrung eingepflanzt. Mit der Zeit hatte sich der Baum der Erkenntnis mit dem wilden Wein des Ararats vermischt, woraus dann eine neue Pflanze entstand: die sogenannte Weinrebe der Erkenntnis, wie mein Nachbar sie nannte. Aram hatte als junger Gärtner in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mehrmals an die sowjetische Akademie für Agrarwissenschaften und an ihren Direktor, den Akademiker Lyssenko, persönlich geschrieben, um ihn auf diese wichtige Pflanze, den direkten Nachfahren vom Baum der Erkenntnis, hinzuweisen. Doch die sozialistische Agrarwissenschaft ließ die Weinrebe der Erkenntnis links liegen. Sie hatte damals andere Prioritäten. Wenn Aram geschrieben hätte, dass diese Pflanze
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