Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
dem Maisfeld jedes Jahr im Herbst ein paar Kraniche zusammenkommen. Linum wurde offiziell zum größten Kranichrastplatz Europas auserkoren, nachdem einmal über 80 000 Vögel gezählt wurden. Jedes Jahr im September geht das Kranichezählen los. Gegen 16.00 Uhr versammeln sich neugierige Menschen vor dem Sumpf, um die an- und abfliegenden Kraniche zu beobachten. Manche kommen auf 100 000, manche zählen noch mehr. Kraniche zählen ist einfach, weil sie in sich ständig wiederholenden geometrischen Figuren ankommen, als Kreuz, Dreieck oder Quadrat. Wenn man weiß, wie viele Kraniche jeweils in einem Dreieck mitfliegen, braucht man diese Zahl nur mit der Anzahl der Figuren zu multiplizieren.
Ich war ebenfalls schon mehrmals in Linum und habe die Vögel fotografiert. Dabei musste ich feststellen, dass Kraniche in Wahrheit gar nicht immer in perfekten Figuren fliegen. Eigentlich so gut wie nie. Stattdessen betreiben sie Himmelsmalerei. Sie schmücken mit ihren Figuren den herbstlichen dunklen Himmel über unseren Köpfen. Darüber hinaus stellte ich fest, dass die Linumer Kraniche bevorzugt auf kubistische, suprematistische Malerei von Kasimir Malewitsch setzten. Sie flogen in schwarzen Dreiecken, Ovalen und Kreuzen in den brandenburgischen Sumpf. Manchmal machten sie seine anderen Bilder nach, sie kannten anscheinend auch den späten Malewitsch.
Einmal bildeten die Kraniche am Himmel sogar ein schwarzes Quadrat. Das Schwarze Quadrat wird oft als Sackgasse der Aufklärung interpretiert. Es soll das Unbegreifliche ausdrücken, die Welt, die sich unserem Verständnis entzieht. In Wirklichkeit ist das Schwarze Quadrat die kinderfreundlichste Einladung in die Welt der Schönen Künste seit Bestehen der Malerei. Es ist beinahe das einzige Bild, das jedes Kind ziemlich genau nachmalen kann. Ich habe als Kind und Jungpionier in der Schule ständig Quadrate gemalt. Schwarz war neben Grün meine Lieblingsfarbe, und ich wurde in der Klasse als »Malewitsch« gehänselt.
Diese geheimnisvollen Kraniche faszinierten mich mehr als die brandenburgischen Elefanten und Krokodile. Warum haben sie sich ausgerechnet diesen Sumpf hinter Linum als Heimat erkoren? Die Vögel kannten doch keine Grenzen, sie genossen absolute Freiheit. Sie hätten genauso gut in London, Paris oder New York bleiben können. Mal angenommen, ihnen gefiel es hier in diesem kalten nebligen Sumpf besonders gut. Aber, liebe Kraniche, fliegt doch ein wenig herum! Halb Deutschland besteht aus solchen nebligen Sümpfen. Den Neugierigen vor Ort wurde erklärt, die Kraniche würden hier für ihren letzten Abflug nach Afrika trainieren, schon bald würden sie in wärmere Gebiete weiterziehen. Doch die Einheimischen wussten, diese Kraniche zogen nirgendwohin, obwohl sie fleißig trainierten. Sie flogen nicht nach Afrika, nicht einmal nach Spanien mochten sie. Früher, im vorigen Jahrhundert, hätte es sich vielleicht noch gelohnt, angesichts der hierzulande drohenden Kälte so weit zu fliegen. Später, mit Beginn der globalen Erwärmung, gingen manche deutschen Kraniche zumindest noch für kurze Zeit nach Spanien und hinüber nach Ibiza. Inzwischen kamen sie aber gar nicht mehr richtig vom Fleck. Sie taten nur noch so, als würden sie bald abfliegen. In Wirklichkeit gaben sie jeden Abend fünf obligatorische Kreise um ihren Sumpf, flogen mit lautem Gackern über mein Haus in Glücklitz, präsentierten mir die letzten Phasen der künstlerischen Entwicklung der Malerei des vergangenen Jahrhunderts, schrien »Malewitsch forever« und flogen zu ihrem Sumpf nach Linum zurück.
Unser Schwanensee
Jedes Mal, wenn wir zum Garten rausfahren, mache ich als Erstes einen Kontrollrundgang, um nachzuprüfen, ob noch alles beim Alten ist. Die Fische im Teich, das Gras auf der Wiese, die Pflanzen, die Löcher der Maulwürfe, die Katzen, das Brennholz. Zuletzt schaue ich nach, ob mein Nachbar, Herr Köpke, noch da ist, beziehungsweise, ob der Adventskranz an seinem Küchenfenster leuchtet. Bei Herrn Köpke leuchtet der Adventskranz nämlich nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern das ganze Jahr über. Ich habe mich nie getraut, nach dem Grund dafür zu fragen. Vielleicht hat ihm die Lichterdekoration beim Aufhängen vor dreißig Jahren so gut gefallen, dass er sie nicht mehr abnehmen wollte.
Brandenburg ist übrigens die Heimat des Weihnachtsmannes. Eine ehemalige Nachbarin von uns aus dem Schrebergarten, die ebenfalls aufs Land, nach Himmelpfort, gezogen ist, besuchte uns einmal in
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